„Das ist alles nur geklaut“ singt die Leipziger Popgruppe „Die Prinzen” in ihrem Hit aus den Neunzigerjahren. Geklaut hat Prinzen-Gründungsmitglied Jens Sembdner in seinem Lebensbericht nichts. Jedes einzelne Kapitel ist ganz und gar seins: In „Von unten betrachtet geht es nur nach oben“ erzählt der heute 50-Jährige zum Teil schonungslos offen von dem schweren Schicksalsschlag seines Lebens, dem Freitod seiner Frau.
„Ich kann jeden verstehen, der findet, dass Privates auch privat zu bleiben hat, aber ich sehe keinen Grund mehr, meine Erfahrungen für mich zu behalten“, schreibt Sembdner im Vorwort. Sein Wunsch: Denkanstöße weiterzugeben. Als jemand, der ohnehin im Rampenlicht steht, macht er sich für die Leser zum „gläsernen Menschen“. Zu Beginn holt er weiter aus und schildert seine Kindheit in der DDR, den Weg zur Musik. Von den Leipziger Thomanern abgelehnt wegen eines West-Parkas mit NATO-Aufnäher, hatte er beim Dresdner Kreuzchor Erfolg – „vermutlich war das Wetter an jenem Tag so gut, dass ich mich ohne Jacke vorstellen konnte“. Sembdner erzählt von der Zeit bei den Sängerknaben und davon, wie das Musizieren in seinem Leben bald eine Eigendynamik entwickelte, die ihm kaum einen anderen Weg mehr ließ, als Musik zu machen.
Alles wird anders
Noch vor der Wende dann die Begegnung mit Traumfrau Silvia. Das gemeinsame Leben schildert der Musiker so: „Die Nähe zwischen uns war vom ersten Augenblick an eine so intensive, wie sie andere Paare wohl auch nach Jahren nicht erleben und in manchen Fällen vielleicht gar nicht erleben wollen.“ 1997 die Hochzeit an einem Strand in Kanada. Doch die freie Zeit miteinander wird mit zunehmendem Erfolg der „Prinzen” mehr und mehr zur Mangelware. Silvias Herzenswunsch, eigene Kinder, bleibt unerfüllt, das Hoffen und die Enttäuschungen zehren an der Substanz. Das Paar nimmt zwei Kinder aus katastrophalen Familienverhältnissen auf und stellt sich den damit verbundenen Herausforderungen. Dann kommt „der Tag, der alles verändert hat“ – so nennt Jens Sembdner in der Kapitelüberschrift den 18. November 2001.
Zurück von der Geburtstagsfeier seiner Mutter findet er zu Hause seine Frau, die fünfzig Aspirintabletten geschluckt hat. Im Krankenhaus stirbt sie schließlich. „Etwas Unvorstellbares war passiert, ich war nun allein mit zwei Kindern und hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben.“ Im Buch beschreibt Jens Sembdner all die selbstzerfleischenden Gedanken, die „Was-wäre-wenn“-Fragen und Erklärungsversuche für das Unfassbare. Offen erzählt er von seinem ausgehebelten Alltag nach dem Suizid seiner Frau, dem Leben in einer Art Parallelwelt. Und dann bricht auch der damals 34-Jährige zusammen. Drei Wochen nach dem Tod seiner Frau wird der Sänger selbst ins Krankenhaus eingeliefert, er hat den Rest der Aspirin-Großpackung geschluckt.
In einem Zustand zwischen Tod und Leben sieht er sich in einem Raum mit mehreren Türen, die sich nicht öffnen lassen. „Plötzlich hörte ich eine Stimme sagen: ‚Jens, du bist noch nicht dran!‘“ Sembdner überlebt und beginnt sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen. Sein Ansprechpartner vor allem: Bandkollege Wolfgang Lenk, ein überzeugter Christ. Über ihn kommt er in eine evangelische Freikirche, hört dort nicht die zuerst erhofften klaren Antworten, spürt jedoch etwas von einem beneidenswerten Gottvertrauen. Dass er heute verkünden kann, im Glauben Trost und Stärke gefunden zu haben, war keine Veränderung von heute auf morgen, sondern ein langer Prozess, das wird in den folgenden Kapiteln deutlich.
Kein Missionar
Der „Prinz” steigt beruflich wieder ein, ist dem Tourleben aber noch nicht gewachsen und muss darüber hinaus den Spagat als alleinerziehender Vater schaffen. Eine Zeit im Schweigekloster hilft ihm zur Ruhe zu kommen und sich neu auszurichten. Auch nach seiner Abkehr von der Freikirche bleibt das Gebet in Jens Sembdners Leben ein festes Ritual und gibt ihm Halt.
2007 erscheint das erste Album seines Soloprojekts „Jes. 41“. „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir“, so ein Vers aus dem 41. Kapitel des Propheten Jesaja, das für den Sänger mit einem im Buch beschriebenen Schlüsselerlebnis verbunden ist. Texte von tiefer Gotteserfahrung, zum Teil aus alten Kirchenliedern übernommen, zeichnen dieses Album aus. Als Prediger oder gar Missionar sieht sich Sembdner allerdings nicht. Auf den Glauben bezogen ist er in seinen Formulierungen oft eher vorsichtig: „…denn das Ende allen Leidens beginnt in mir selbst und dabei vertraue ich auf eine höhere Wirklichkeit, einer Einheit des Lebens, einer übergroßen Liebe, die an mir und in mir arbeitet. Ich nenne diese allumfassende Liebe Gott.“
Gefühle, die weh tun
Jens Sembdner beschönigt bei seinem „Weg zurück ins Leben“, so der Untertitel des Buches, nichts. Er beschreibt Situationen oft schmerzhaft deutlich und hält mit seinen Gefühlen, auch der maßlosen Wut auf Gott, nicht hinter dem Berg. Er erzählt offen von Schuldgefühlen, Trauer und Verzweiflung, aber auch von Trost, den es nicht auf Knopfdruck gibt. Während die Katastrophe unvermittelt und mit voller Wucht hereinbricht, ist der steinige Weg zurück ins Leben ein langsamer und oft mühsam erkämpfter. Ein Weg, so merkt man beim Lesen, auf dem der Musiker immer noch unterwegs ist.
Für ihn haben sich nach eigenen Worten die Prioritäten verschoben, auf den letzten Seiten bezeichnet er sich als zufriedener. Menschen, die Ähnliches durchmachen mussten, können sich in Jens Sembdners Erfahrungen wiederfinden, für die anderen ist es mindestens eine packende Lektüre mit viel Stoff zum Nachdenken. (pro)
Von: cba