Für Ihre Studie haben Sie mit Menschen gesprochen, die ihren christlichen Glauben aufgegeben haben. Was bedeutet so ein Schritt?
Eine Entkehrung ist eine sehr weitreichende Entscheidung, so wie die Bekehrung auch. Der Glaube ist nicht nur ein Teil des Lebens, sondern durchdringt alle Lebensbereiche – die Identität, Familie, Freundschaften, Arbeit. Insofern betrifft eine Entkehrung auch all das. Für viele Befragte war das eine sehr existenzielle, schmerzhafte Entscheidung mit langen inneren Kämpfen und vielen Konsequenzen. Vom ersten Gedanken an eine Dekonversion bis zum Ablegen des Glaubens hat es meistens fünf bis sieben Jahre gedauert. Bei niemandem ging das von heut auf morgen.Sie sind nicht nur Forscher, sondern selbst auch Christ. Wie ging es Ihnen persönlich bei den Interviews?
Das war nicht einfach. Während der Interviews und der Auswertung habe ich natürlich versucht, Distanz zu halten. Aber als ich die Analysen für das Buch vorbereitet habe, habe ich gemerkt, wie nahe mir das Thema geht. Denn da wurden viele Fragen gestellt, die auch für meinen Glauben und mein Verständnis von Gemeinde und Kirche wichtig sind. Damit bin ich auch noch nicht fertig.Wie meinen Sie das?
Wir haben festgestellt, dass es in Gemeinden Strukturen gibt, die Dekonversionen fördern. Ich frage mich, wie wir Strukturen schaffen können, die helfen und nicht destruktiv sind. Auch die Themen Macht und Missbrauch in der Gemeinde beschäftigen mich. Wie werden biblische Grundsätze umgesetzt? Was fördert einen mündigen, gesunden Glauben, der Widerstandskraft gegen Zweifel und Schicksalsschläge hat?Wie können denn Gemeinden so einen „mündigen Glauben“ fördern?
Eine der Befragten sagte: „Christen sind nicht so, wie sie singen.“ Das ist ein guter Anknüpfungspunkt. Wir sollten das, was wir singen, lesen und hören, mit Leben füllen. Wir reden über Gnade und Versöhnung, aber wenn einer eine andere Meinung hat, sind wir plötzlich nicht mehr gnädig und versöhnlich. Wir sollten in den Gemeinden gemeinsam einüben, was das konkret bedeutet. Gerade an Unterschieden kann man so etwas lernen: miteinander zu reden und andere stehenzulassen, wenn sie eine abweichende Meinung haben. Mündiger Glaube bedeutet, dass der Glaube nicht nur angeeignet und von Predigten und der Gemeinde übernommen wird. Er wird zum eigenen Glauben: Ich durchdenke, lebe, hinterfrage ihn und kann sagen, was er für mich bedeutet.„Zweifel zulassen“
In der Studie stellen Sie fest, dass es in Gemeinden einengende Strukturen gibt und dass Moral und Macht missbraucht werden. Wie erklären Sie sich das?
Bestimmte moralische Vorstellungen sind in einer Generation gewachsen. Andere Generationen wachsen da hinein. Einer kann damit gut umgehen, andere können daran kaputt gehen. In manchen Gemeinden wird Pluralität im Glauben nicht gefördert. Da heißt es dann: „So und so ist man als guter Christ.“ Wenn da jemand nicht hineinpasst oder eigene Positionen vertritt, beginnen Prozesse der Einengung und des Drucks. Vor allem unausgesprochene Verhaltensregeln sind problematisch.Wie können Gemeinden die Balance schaffen: Auf der einen Seite einen verbindlichen christlichen Lebensstil zu fördern und auf Schuld hinzuweisen, auf der anderen Seite aber niemanden einzuengen?
Solche Fragen können nur in der Gemeinschaft beantwortet werden. Man muss gemeinsam überlegen und darüber reden: Wie verstehen wir einzelne Aussagen der Bibel? Warum verstehe ich sie so? Was ist unverständlich? Es ist wichtig, dass es dafür Kommunikationsräume gibt. Wir sollten die Angst davor ablegen, dass der ganze Glaube einer Person zusammenfällt, wenn sie einen bestimmten Aspekt nicht glaubt. So etwas macht es schwierig, auch Zweifel zuzulassen und auszusprechen.Sie lassen im Buch die Frage außen vor, ob jemand sein Seelenheil wieder verlieren kann, wenn er einmal Christ war. Was ist Ihre Position dazu?
Wir haben das absichtlich nicht im Buch thematisiert, weil es darin um Menschen geht und weil wir empirisch forschen. Gott kann man nicht empirisch untersuchen, dem kann man sich nur theologisch annähern. Ich persönlich glaube, dass die menschliche Geschichte mit Gott am Ende sein kann, aber Gottes Geschichte mit einem Menschen kann weitergehen.Was erhoffen Sie sich von Ihrem Buch?
Wir wünschen uns, dass es Christen lesen und dadurch einen Nutzen für ihren eigenen Glauben haben. Wir wünschen uns auch, dass Gemeinden darüber diskutieren. Es gibt Strukturen, von denen viele nicht wissen, welche Auswirkungen sie haben können. Zum Beispiel wenn man einseitig argumentiert: „Der Heilige Geist hat mir gesagt“ oder „Die Bibel sagt klar“, da bleibt kein Raum für Widerspruch. Aber wenn man keine Möglichkeit lässt, das zu hinterfragen oder eine andere Position zu formulieren, kann das Leuten, die das sehr ernst nehmen, zu schaffen machen. Da sollten wir in den Gemeinden überlegen, wie wir miteinander umgehen. Mit dem Buch wollen wir natürlich auch an die Menschen denken, die ihren Glauben verlieren, und ihnen eine Stimme geben. Viele von ihnen haben ja nicht nur schlechte Erfahrungen in der Gemeinde gemacht, sondern haben auch viel Positives erlebt, was sie später vermissten.Vielen Dank für das Gespräch! (pro)
Tobias Faix/Martin Hofmann/Tobias Künkler: „Warum ich nicht mehr glaube. Wenn junge Erwachsene den Glauben verlieren“, SCM R. Brockhaus, ISBN 9783417265835, 248 Seiten, 17,95 Euro Lesen Sie eine ausführliche Rezension in der neuen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro