Der Krieg ist ein zentrales Motiv der diesjährigen Berlinale. Das war kaum anders zu erwarten und zeigte sich in zahlreichen Dokumentationen und Spielfilmen, aber auch in Auftritten etwa des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj oder von Filmemachern und -macherinnen aus dem Iran.
Der Krieg
Sean Penns Dokumentation „Superpower“ zeigte Selenskyj nochmals und zwar in der ersten Kriegsnacht in einem Bunker irgendwo unter Kiew im Interview. Wer weiß, dass Filmgröße Sean Penn nicht nur geradezu zufällig den Ausbruch des Krieges miterlebt hat, sondern seitdem wiederholt zurück in die Ukraine gereist ist und den Staatschef getroffen hat, den wundert es nicht, dass er einen eindeutigen Appell an alle Zuschauer seines Films richtete: Liefert der Ukraine Waffen. Und zwar mehr und schneller als bisher.
Zu einer ganz anderen Front nahm der Film „Golda“ die Berlinale-Besucher mit. Das Werk des Israelis Guy Nattiv zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben der ersten israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir: den Jom-Kippur-Krieg.
Nattiv ist ein Meisterwerk aus Bildern und vor allem Tönen gelungen, ein Antikriegsfilm, der nicht nur das Herz der scheinbar unnahbaren Meir in den Blick nimmt. Er macht auch ganz ohne einen Tropfen Blut auf dem Schlachtfeld zu zeigen die Grauen des Kampfes spürbar. Und das auch noch aus rein israelischer Perspektive. Eine Seltenheit im nicht-amerikanischen Kino, die gleich Protest hervorrief. Am Abend der Weltpremiere postierten sich einige Demonstranten vor dem Berlinale-Palast und kritisierten die Darstellung mit einem „Freiheit für Palästina“-Plakat.
Der Terror
Die derzeitige Lage im Iran veranschaulichte eine weitere Dokumentation mit dem Titel „Mon pire ennemi“, zu Deutsch etwa: „Mein schlimmster Feind“. Und auch das ist, wenn man so will, Zufall. Denn als der Exil-Iraner Mehran Tamadon seinen Film drehte, gab es die jüngste Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ noch gar nicht. Trotzdem ist Tamadons Werk aktueller denn je.
In seinem Aufenthaltsland Frankreich hat er sich auf die Suche nach anderen Iranern gemacht, die bereits im Iran verhört worden sind. Sie sollen ihn vor laufender Kamera so behandeln, wie sie selbst behandelt wurden. Eine Frau namens Zar Amir Ebrahimi treibt das Spiel nicht nur sehr weit, sie scheint auch Gefallen daran zu finden. Sie stellt Tamadon unter eine kalte Dusche, lässt ihn halbnackt über einen öffentlichen Friedhof laufen und stellt ihm Fragen zu seinem Sexualleben.
Die Kamera zeigt auch das Nachgespräch der Dreharbeiten, in dem Ebrahimi berichtet, wie sie tatsächlich gefoltert wurde und das geht zum Überraschen der Zuschauer und des Regisseurs weit über das hinaus, was sie vor der Kamera vorspielte. Im Zuge der aktuellen Proteste droht tausenden Iranern ähnliches oder sie erleben solche Folter schon jetzt.
„Sira“ der burkinischen Regisseurin Apolline Traoré wiederum ruft die Erinnerung an mittlerweile tausende durch Terroristen entführe nigerianische Mädchen wach. Viele von ihnen sind Christinnen und müssen Gruppen wie Boko Haram als Dienstmädchen oder Sexsklavinnen dienen. So ergeht es auch dem Mädchen Sira, einer Muslimin, die gerade unterwegs zu ihrer Hochzeit mit einem Christen ist.
Die Hochzeit findet nie statt, sie wird vom Anführer der Gruppe vergewaltigt und zum Sterben in der Wüste zurückgelassen. Doch Sira rappelt sich auf, schleppt sich in die Nähe des Terrorcamps, zuerst, um sich selbst zu versorgen, indem sie Nahrung stiehlt. Als weitere entführte Mädchen im Camp eintreffen, hilft sie ihnen schließlich, sich zu befreien. Ergreifend ist für christliche Zuschauer vor allem eine Szene, in der die in Burkas gekleideten Frauen in ihrem Zelt gemeinsam das Kirchenlied „It is well“ singen – bevor sie brutal von ihren Entführern zum Schweigen gebracht zu werden.
Die Familie
Im Berlinale-Wettbewerb taten sich zwei Filme besonders hervor, die den Umgang mit Trauer, Leid und Tragödien in Familien zum Thema machten. Da war zum einen der bewegende Film von Lila Avilés. In „Totèm“ feiert ein todkranker Vater seinen 27. Geburtstag. Die Familie ist vor allem mit den Vorbereitungen der Party beschäftigt, die irgendwie wohl auch ein Abschiedsfest sein wird.
Während Schwestern, Brüder, Vater, Neffen und Cousinen backen, putzen und Geschenke vorbereiten, wird dem Zuschauer schnell klar: All das dient der Verdrängung des Todes. Der Kranke hingegen verschanzt sich weite Teile des Films in einem Hinterzimmer, geplagt von Schmerzen, aber auch von der Angst, abgemagert und leidend gesehen zu werden. Lediglich seine Tochter, ein Mädchen von vielleicht acht Jahren, blickt der Wahrheit ins Auge.
Eine ganz andere Art von Familientragödie zeigt der ebenfalls berührende Film „20.000 especies de abejas“, zu Deutsch etwa: „20.000 unterschiedliche Arten von Bienen“. Die spanische Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren nimmt sich ein Motiv vor, das zuletzt auch in der deutschen Produktion „Oskars Kleid“ im Mittelpunkt stand. Der achtjährige Aiton sieht sich selbst als Mädchen. Er liebt Kleider, Meerjungfrauen, Rüschen und seine langen Haare. Seinen Namen hingegen lehnt er ab, lieber will er Cocó oder Lucièn heißen.
Dieser Film zeigt, wie eine Familie sich am Thema sexuelle Identität abkämpft: Aiton gegen die religiöse Großmutter, die Sätze sagt wie: „Gott macht uns perfekt.“ Mutter gegen Vater, denn sie möchte die weibliche Identität ihres Jungen akzeptieren, er argumentiert, man müsse härter mit ihm umgehen. Aiton gegen seine Spielkameraden, die ihn heimlich auf der Toilette beobachten. Und Aiton gegen sich selbst, wenn er weinend sagt: „Ich weiß nicht, wer ich bin.“ Oder: „Ich möchte sterben und als Mädchen wiedergeboren werden.“
„20.000 especies de abejas“ zeigt deutlich, dass die Debatte um Transsexualität spätestens dann alle Ideologie verliert, wenn sie sich in der eigenen Familie abspielt. Der Film ist ebenso rührend wie perspektiverweiternd, besonders auch für Menschen aus christlichen Kreisen, denen die sogenannte Genderdebatte oft zu abstrakt geführt wird.
Kirche kein Thema
So hat sie Berlinale in diesem Jahr wichtige Akzente gesetzt. Auffällig war bei all den wichtigen und tiefgründigen Filmen aber auch, dass das Thema Kirche keinen Platz hatte. Während in den vergangenen Jahren beim größten deutschen Filmfestival doch Glaubensthemen und vor allem Kirchenkritik eine Rolle spielten, gelegentlich sogar im Wettbewerb der Berlinale, suchte man das dieses Mal vergebens. Eine nicht ganz ernstzunehmende, aber zumindest witzige Ausnahme stellte Anne Hathaway als durchgeknallte Nonne mit Putzfimmel im Eröffnungsfilm „She came to me“ dar. Doch damit ist das Thema kaum erschöpfend behandelt.
Die Vergabe der Berlinale-Preise am Samstag wird zeigen, welche Schwerpunkte die Jurys setzen. Mit dabei ist immerhin auch eine Ökumenische Jury, die ihre Preise unter anderem für die Darstellung „menschlichen Verhaltens oder Zeugnisses, das mit dem Evangelium in Einklang steht“ vergibt. Die Präsidentin dieser Jury, Miriam Hollstein, erklärte jüngst im PRO-Interview: „Ich glaube, es gibt eine große Sehnsucht nach Glauben, und die zeigt sich im Kino.“ Bleibt abzuwarten, wo sie diese Sehnsucht bei der Berlinale entdeckt hat.