Floria steht auf dem Balkon einer Schweizer Klinik. Zittrig atmet sie ein. Und wieder aus. Geht kurz in die Knie. Wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann muss es weitergehen. Sie geht zurück auf die Station der Inneren Medizin, wo sich Krebspatienten auf ihre Diagnosen vorbereiten, eine Gallenblase entfernt wurde und eine demente Patientin mit Verstopfung morgen entlassen werden soll.
Kurz zuvor hat sie die Medikamente zweier Patienten vertauscht. Das Ergebnis: Einer lief rot an und musste wegen einer allergischen Reaktion ein Gegenmittel gespritzt bekommen. Der andere fühlt sich berauscht, muss aber nichts weiter fürchten. Es hätte schlimmer kommen können. Das weiß auch Floria. Trotzdem ist die Krankenschwester, bei der eigentlich jedes Zuganglegen sitzt, die ihre Patienten wenn nötig in den Schlaf singt und sich sogar Zeit nimmt, in ihrer überladenen Schicht verloren geglaubte Lesebrillen zu suchen, unendlich enttäuscht von sich.
Egal. Es muss weitergehen. Schon klingelt der nächste Patient. Schon muss wieder jemand aus dem OP abgeholt werden. Schon wollen Angehörige über ihre Lieben informiert werden. Schon klingelt das Stationstelefon. Unablässig. Eine ganze Nachtschicht lang.
Atemlos, zittrig, müde
Wer den auf der Berlinale als Vorpremiere laufenden Film „Heldin“ von Petra Volpe sieht, ist atemlos, genau wie die Protagonistin (Leonie Benesch). Die Zuschauer hetzen mit ihr durch die Gänge der Station, sehnen sich wie sie nach einer Pause, beobachten sie beim Spritzenaufziehen, am Anfang noch sicher, mit zunehmendem Stresspegel am Ende des Films zunehmend zittrig.
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Als Floria schließlich, kurz nachdem eine Patientin verstorben ist, für die sie im Gewusel keine Zeit gefunden hat, die Luxusuhr eines immer wieder wegen Nonsens nervenden Patienten aus dem Fenster seines Zimmers wirft, gibt es Zwischenapplaus im Kino. Wenn „Heldin“ eines schafft, dann Empathie für Krankenpfleger und überhaupt alle pflegenden Berufe aufzubauen. Man möge sich daran erinnern, wenn man das nächste Mal selbst im Krankenhaus liegt und länger auf ein Schmerzmittel warten muss.
Der deutsch-schweizerische Film ist deshalb einer der herausragenden der diesjährigen Berlinale und schon ab dem 27. Februar auch in den regulären Kinos zu sehen. Er zeigt den Krankenhausalltag schonungslos, glaubhaft und noch dazu dramatisch unterhaltsam, sodass jeder, der danach das Kino verlässt, sich erstmal eine Pause wünscht.
So wie Floria nach ihrer Schicht, als sie im Bus nach Hause fährt. Morgen wird sie wieder bei ihren Patienten sein. „Ich tue mir das nicht mehr an“, sagt sie einmal im Film. Doch nach 90 Minuten mit dieser Hauptfigur ist jedem klar: Natürlich wird sie. Weil sie den Beruf liebt. Mit welcher anderen Motivation sollten Krankenpfleger auch jeden Tag antreten. Die Bezahlung kann es nicht sein und die guten Arbeitsbedingungen ebenfalls nicht.
„Heldin“ erinnert noch an etwas anderes. In einer Szene telefoniert Floria mit ihrer kleinen Tochter, die gerade beim getrennt lebenden Vater übernachtet. Denn wie soll es anders gehen im Krankenhausdienst, mit Nachtschichten und unregelmäßigen Arbeitszeiten? Die Tochter legt schließlich einfach auf, Floria bleibt allein zurück. Auch das gehört zur Wahrheit des Berufs: Er verlangt Aufopferung bis ins Privatleben hinein. Man kann Regisseurin Volpe nur danken, dass sie das allen Kinobesuchern vor Augen führt. Und hoffen, dass ihr Ruf bis in die Politik hinein gehört wird.
Starke Frauen auf der Berlinale
Am Sonntag geht die diesjährige Berlinale zu Ende, am Samstag werden die Preise vergeben. Auch wenn „Heldin“ nicht im Wettbewerb dabei ist, steht das Filmfest in diesem Jahr mehr denn je im Zeichen starker Frauen. In „If I had Legs, I’d kick you“ von Mary Bronstein kämpft sich eine Frau (Rose Byrne) mit essgestörtem Kind und dauerabwesendem Mann durch ihr Leben – und scheitert am Ende kläglich. Der Film setzt ebenso wie „Heldin“ ein starkes Zeichen im Namen überlasteter Frauen, die zwischen Beruf, Privatleben und den sonstigen Herausforderungen, die die Gesellschaft an sie heranträgt, zerrieben werden.
Im Wettbewerbsfilm „Mother’s Baby“ verpackt Regisseurin Johanna Moder das schwere Thema Kindbettdepression in einem unterhaltsamen Thriller. Protagonistin Julia (Marie Leuenberger) kann nicht schwanger werden und nimmt die Hilfe einer Kinderwunschklinik in Anspruch. Doch als es bei der Geburt zu Komplikationen kommt und sie ihr Kind erst Tage danach erstmals in den Armen hält, wird sie den Verdacht nicht los, dass es ausgetauscht wurde – und der ominöse Arzt (Claes Bang) sich an ethisch fragwürdigen Menschenexperimenten versucht. Auch hier steht die Frau unter Druck, auch hier wird sie von allen verlassen und muss sich allein durch ihre Herausforderungen kämpfen. Auch wenn der Plot am Ende nicht ganz überzeugen kann, greift „Mother’s Baby“ zu Recht ein lange verschwiegenes Thema auf: Die Tatsache, dass nicht jede Mutter freudestrahlend nach der Geburt aus dem Krankenhaus nach Hause kommt. Das ist wichtig und gehört gesehen.
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Auch die Wettbewerbsfilme „The Message“ und „The Blue Trail“ begleiten Frauen. Erster ein Mädchen (Mara Bestelli), das angeblich die Gedanken von Tieren lesen kann und dessen Familie daraus ein Geschäftsmodell entwickelt hat. So reisen das Kind, die Großmutter und ihr Lebenspartner mit einem Camper durchs Land, immer auf der Suche nach Kunden, die wissen wollen, wie es ihrem Haustier gerade so geht. Während die Mutter des Mädchens in einer Klinik für psychisch Kranke lebt. „The Message“ von Iván Fund ist eine schöne Schwarz-Weiß-Studie über die Frage: Was ist eigentlich Kindheit? Und kann sie verloren gehen?
„The Blue Trail“ von Gabriel Mascaro schließlich gilt vielen als Tipp für den Goldenen Bären, den Hauptpreis der Berlinale, der am Samstag vergeben wird. Er begleitet eine ins Rentenalter gekommene Frau, die in ihrer Gesellschaft nun eigentlich aussortiert werden soll. Denn es gilt: Wer ein bestimmtes Alter erreicht, soll den Jüngeren nicht mehr zur Last fallen und stattdessen staatlich betreut in einer Altersresidenz leben. Nur, dass niemand wirklich weiß, wie es da zugeht. Tereza (Denise Weinberg) verweigert sich dieser Deportation und sucht sich Freunde, die ihr helfen, zu fliehen. Am Ende erlebt sie Abenteuer um Abenteuer und erfindet sich neu. Ein wunderbarer Film, immer hart an der Grenze zur märchenhaften Erzählung, mit wunderbaren Landschaftsaufnahmen und einem Plädoyer für Freundschaft und die Schönheit des (gemeinsamen) Alterns.