Was passiert, wenn man Passanten brutale Bibelverse vorliest und behauptet, sie würden im Koran stehen? Das zeigt ein YouTube-Video, das im Netz gerade enorm erfolgreich ist. Die Ergebnisse dieses Experiments sind jedoch kaum überraschend und der Erkenntnisgewinn gleich null. Ein Kommentar von Jonathan Steinert
Hand abhacken und Hinrichtung kennt sowohl das Alte Testament als auch der Koran als Strafe gegen Vergehen. Um die Religionen zu verstehen, sind diese Details allein aber wenig hilfreich.
Zwei junge Niederländer, die den YouTube-Kanal „Dit is normaal“ betreiben, haben ein „Koran-Experiment“ gemacht: Dafür haben sie eine Bibel in einen Einband mit der Aufschrift „Der heilige Koran“ eingeschlagen und lesen Passanten auf der Straße Verse vor, „die in großem Kontrast zu westlichen Normen und Werten stehen“, wie sie sagen. Zum Beispiel „Wenn du meinen Geboten nicht gehorchst, wirst du das Fleisch deiner Söhne und Töchter essen“ (5. Mose 28,15/54); „Wenn zwei Männer miteinander schlafen, müssen sie getötet werden“ (3. Mose 20,13); „Ich erlaube einer Frau nicht, zu lehren“ (1. Timotheus 2,12) – das ist im Video zusammengeschnitten mit der Passage „Ihr soll man die Hand abhacken“, was in 5. Mose 25,12 die Strafe dafür ist, wenn sie einem Mann in die Schamteile fasst, während dieser mit einem anderen streitet.
Die Passanten reagieren irritiert. „Wie kann man so etwas glauben?“, wundert sich eine Frau, ein junger Mann findet es „lächerlich“. Eine andere Frau bemerkt, dass „sie“, also Muslime, ja tatsächlich Hände abhacken würden. Wer mit solchen Worten aufwachse, dessen Denken sei davon beeinflusst; es gehe um Unterdrückung und den Zwang, diesen Glauben zu haben. Der Koran sei im Vergleich zur Bibel aggressiver, meint ein junger Mann in der Annahme, er habe gerade Korantexte gehört; in der Bibel stünden eher positive Dinge, auch die Rolle der Frau sei in der Bibel anders, sagen andere. „Es beschäftigt mich, dass manche Menschen diese alten Worte als die Wahrheit ansehen“, sagt eine Frau. Als die beiden YouTuber verraten, dass sie Bibelverse vorgelesen hatten, können das die Befragten kaum fassen.
Keine Überraschung
Wozu das Experiment? Angesichts der Terroranschläge von Paris und der Zusammenhänge, die zwischen Islam und der Terroroganisation Islamischer Staat (IS) hergestellt würden, stünden Muslime unter besonderer Beobachtung, erklären die YouTuber. Muslime würden beschuldigt einer Religion zu folgen, die im Westen keinen Platz habe. Deshalb wollten sich die beiden anschauen, wie es im Christentum aussieht, das doch die europäische Kultur geprägt habe.
Über 2,5 Millionen Mal wurde das Video innerhalb von zwei Tagen auf YouTube angeschaut. Auf Facebook hatte es über 400.000 Aufrufe, mehr als 14.000 Nutzer haben es geteilt. Der Erkenntnisgewinn dieses Experiments ist jedoch gleich null. Natürlich lässt sich daran sehen, dass es negative Vorurteile gegenüber dem Islam gibt. Denn dass die Zitate aus dem Koran stammen sollten, hat niemand hinterfragt.
Überraschend ist das jedoch nicht, denn grausame Passagen über Peitschenhiebe, Todesstrafen für Ungläubige und über das Abhacken von Händen bei Diebstahl gibt es dort auch. Nur, dass dies in islamisch geprägten Ländern mit Scharia-Recht tatsächlich noch Teil der Rechtsprechung ist. Traurig-berühmtes Beispiel ist der Blogger Raif Badawi, der in Saudi-Arabien wegen „Beleidigung des Islams“ zu 1.000 Stockschlägen verurteilt wurde. Immer wieder gibt es Todesurteile für Menschen, die sich vom Islam abwenden. Und auch der islamistische Terror lässt sich nicht völlig losgelöst von der Religion betrachten, auch wenn er einer extremistischen Lesart derselben folgt.
Vorurteile abbauen geht anders
Was also will das Video? Es zeigt vor allem eines: Es hat wenig Sinn, einzelne Verse aus dem Koran und der Bibel gegenüberzustellen und damit zu messen, welche die bessere oder grausamere Religion ist. Denn über die eigentliche Lehre sagen zusammenhangslose Zitate wenig aus – weder über den Islam noch über das Christentum. Da sollte man dann doch lieber den Kontext solcher Aussagen kennen, die Rolle des Religionsgründers anschauen und auch die Auslegungen und historischen Entwicklungen der Religion berücksichtigen.
Den Baum erkennt man an seinen Früchten, lautet ein Sprichwort, das auf Jesus zurückgeht. Wenn es darum gehen soll, Vorurteile abzubauen und zu hinterfragen, muss man sich kennenlernen. In der Begegnung miteinander könnten Muslime Christen erklären, warum auch ihre Religion zum Westen passt. Und die Menschen des christlichen Abendlandes könnten aufzeigen, was die sogenannten westlichen Werte mit ihrem Glauben zu tun haben. Dafür braucht es aber ein Bewusstsein für die eigene Herkunft. Wer dann staunend brutale Bibelverse zitiert und damit suggeriert, dass das Christentum auch nicht besser sei, hat da offenbar etwas nachzuholen. (pro)
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