„Die Gruppe derjenigen, die keiner organisierten Religion angehören, wächst zwar in vielen europäischen Ländern. Damit einher geht jedoch nicht eine genauso stark wachsende Ablehnung von Glauben und Spiritualität“, sagte die britischen Religionssoziologin Linda Woodhead in ihrem Vortrag mit dem Titel „Is ‘No Religion’ the New Religion?“ (Ist „keine Religion“ die neue Religion?).
Nur 13 Prozent der Konfessionslosen in Großbritannien folgten dem so genannten „Neuen Atheismus“ des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Außerdem zeigten nur 42 Prozent der Briten, die angeben, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, die feste Überzeugung, es gebe keinen Gott. „Gut 16 Prozent von ihnen halten die Existenz Gottes oder einer höheren Macht sogar für sicher oder wahrscheinlich.“
Woodhead, e Professorin an der Lancaster University, erklärte weiter: „An die Stelle kirchlicher Bindung treten mehr und mehr individualistische und synkretistische Religionsformen.“ Rund ein Viertel der Konfessionslosen pflege im privaten Bereich eigene spirituelle Praktiken. „Wer sich heute in England oder Deutschland beerdigen lassen will, bekommt viele christlich-säkulare Mischformen geboten.“ Vor wenigen Jahrzehnten seien christliche Rituale noch die Normalität gewesen. Heute seien ‚No-religion-Rituale‘ oder gemischte Formen normal.
In England lag der Anteil der Konfessionslosen an der Bevölkerung vor gut 30 Jahren bei einem Drittel. Heute gibt die Hälfte der Menschen an, keiner Religion anzugehören. „Im weltweiten Vergleich sehen wir solche Entwicklungen vor allem in liberalen Demokratien, die zuvor mehrheitlich christlich waren“, so Woodhead, „etwa in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Australien oder den USA. In den meisten anderen Ländern ist es weiterhin Norm, einer Religionsgemeinschaft anzugehören.“
Für ihre wissenschaftlichen Verdienste erhielt die 53-jährige Woodhead die Ehrendoktorwürde der Universitäten Uppsala, Zürich und Oslo. Sie erhielt 2013 die Auszeichnung „Order of the British Empire“. Zuletzt war sie Delegierte beim Weltwirtschaftsforum in Davos und gehörte dessen Beirat für die Fragen des Glaubens an. Woodhead studierte Theologie und Religionswissenschaften an der University of Cambridge und spezialisierte sich auf Kultur-, Religions- und Werteforschung.
Revolution der spirituellen Alternativen
Die Professorin führte aus, in der Gruppe der Konfessionslosen werde viel Wert auf die Unabhängigkeit individueller Überzeugungen gelegt. Viele von ihnen sagten etwa „Ich bin auf meine Weise christlich.“ In Umfragen gäben 63 Prozent der Briten an, bei Entscheidungen auf die eigene Vernunft oder Intuition zu hören, nur sechs Prozent hörten auf Gott oder eine höhere Macht und zwei Prozent auf die Lehre einer Religionsgemeinschaft. „Insgesamt haben wir es mit einem tiefgreifenden Wertewandel zu tun, mit dem Wechsel von einem Ethos der Selbstaufopferung für höhere Zwecke zum Ethos der Selbstverwirklichung, die man sich selbst, aber auch anderen ermöglichen will.“
Im Hintergrund stehe die vor Jahrzehnten begonnene „lange Revolution“, nach der Menschen in liberalen Demokratien immer mehr nach der Überzeugung lebten, dass sie das Recht auf eine eigene Meinung hätten. Mit ihrem Vortrag knüpfte Woodhead an ihre These von einer „spiritual revolution“ („spirituelle Revolution“) an, wonach alternative Formen der Spiritualität zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) forschen rund 200 Wissenschaftler aus mehr als 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 14 Nationen. Sie untersuchen das komplexe Verhältnis von Religion und Politik. Es ist bundesweit der einzige von den 43 Exzellenzclustern in Deutschland zum Thema Religion. (pro)
Von: js