Man erleichtere es Menschen, am Gottesdienst teilzunehmen, wenn er kürzer sei, sagte der Religionssoziologe Detlef Pollack am Montag in Bonn vor den Oberen der Evangelischen Kirche. Dass Menschen wegblieben, habe vor allem damit zu tun, „dass sie am Sonntagvormittag schlichtweg anderes zu tun haben, das ihnen wichtiger ist.“ Pollacks Ansatz lautet also übersetzt: Wenn die Leute es nicht aushalten, eine lange Predigt oder ein ausführliches Orgelspiel zu hören, dann muss die Kirche sich den Gästen eben anpassen.
Das erscheint ebenso folgerichtig wie falsch adressiert. Denn die Gottesdienste der EKD sind in der Regel gut durchgetaktete Veranstaltungen, kaum eine Predigt dauert länger als 20 Minuten, Fürbitter lesen vom Blatt ab, damit nicht spontan noch ein Anliegen dazu kommt, die Liturgie ist von langer Hand ausgearbeitet und lässt kaum Unregelmäßigkeiten zu. Wer am Sonntag einen landeskirchlichen Gottesdienst besucht, der weiß, worauf er sich einlässt und muss in der Regel nicht fürchten, länger als 60 Minuten an die Kirchenbank gebunden zu sein. Am Sinken der Kirchenmitgliedszahlen hat das bisher nichts geändert.
Pollacks Logik des Verkürzens hat deshalb etwas für sich, weil sie die Kirchen dazu auffordert, sich am Empfänger zu orientieren, anstatt auf Althergebrachtes zu setzen. Im besten Falle verhindert das Verstaubung. Bleibt die Frage, ob das Publikum denn überhaupt kurze Gottesdienste will. Wenn es nämlich, wie Pollack sagt, am Sonntag ohnehin anderes zu tun hat, wird es wohl auch nicht von der Perspektive angelockt, zehn Minuten weniger Zeit in der Kirche verbringen zu müssen.
Kreuz statt Erbauung
Um herauszufinden, was Menschen in die Kirche lockt, hilft ein Blick auf Konzepte, die funktionieren. So zieht etwa das charismatisch orientierte Gospelforum Stuttgart sonntäglich nach eigenen Angaben 5.000 Menschen in den Gottesdienst. Eine internationale Studie aus dem vergangenen Jahr zeigt: Die am schnellsten wachsende Gemeinde in den USA namens Gateway Fellowship Church zählt ebenfalls zu den Pfingstgemeinden und verbucht über 2.000 Gäste am Sonntag. Eine kanadische Studie fand darüber hinaus heraus, dass konservative Gemeinden stärker wachsen als liberale. Wachsende Gemeinden hielten sich eher an den traditionellen Glauben des Christentums und seien gewissenhafter in Sachen Gebet und Bibellesung, erklärte dazu ein Forscher.
Lobpreis, freies Gebet, Bibelkreis und Konservatismus: Offenbar fühlen sich Menschen vor allem von dem angezogen, was Kirchen von der Gesellschaft um sie herum unterscheidet. Sie achten das Besondere. Und da Pfingstkirchen nicht gerade für ihre kurzen Gottesdienste bekannt sind, darf angenommen werden, dass sie für dieses Besondere auch gerne mehr als 60 Minuten des Sonntags opfern.
Freilich muss deshalb nicht jede Kirche eine Pfingstgemeinde werden. Aber der Gegensatz zwischen dem, was Studien offenbaren und der Reaktion der Kirchen ist offenbar: Während die EKD daran arbeitet, ihr eigenes Profil durch immer kürzere Gottesdienste und wenig herausfordernde Predigten zu verwaschen, sind die Menschen auf der Suche nach Orientierung, Anschluss und einem Unterschied zum Alltäglichen. Nicht umsonst forderte SZ-Autor Matthias Drobinski zum Reformationstag, die Kirche möge es unterlassen, das Leid, den Zweifel, die Gottverlassenheit und gar den Teufel auszuklammern, das sei nicht im Sinne Luthers.
Erbauungspredigten mögen ihren Raum haben in der Kirche. Aber die Tiefe des Glaubens und die Besonderheit der christlichen Weltsicht erschließt sich da, wo es dreckig und schmerzhaft wird. In der Kreuzestheologie und in der Erkenntnis, dass wir Gott brauchen und er uns diesen Beistand gewährt. Wer das glaubhaft zu predigen oder zu besingen vermag, dem sind die Zuhörer gewiss. Auch über 60 Minuten hinaus.
Von: Anna Lutz