An den Briefen der Apostel im Neuen Testament lässt sich ablesen, worin die Probleme und Herausforderungen der adressierten Gemeinden lagen. Wenn in der evangelikalen-freikirchlichen Bewegung innerhalb von wenigen Tagen gleich zwei Aufrufe zum christlichen Umgang mit der Corona-Krise erscheinen, dann zeigt das: Der Bedarf an geistlicher Orientierung ist offenbar groß. Die Deutsche Evangelische Allianz veröffentlichte „Gedanken zu Herausforderungen in der gegenwärtigen Corona-Krise“. Ein weiteres Papier trägt den Titel „Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona“, erarbeitet von Michael Kotsch vom Bibelbund samt einigen Mitstreitern, die zum konservativen Flügel der Evangelikalen zählen. Beide Aufrufe unterstützt von zahlreichen Leitern von Gemeinden, Werken und Verbänden.
So unterschiedlich sie auch formuliert sind und ihre Schwerpunkte setzen, gehen sie doch in eine ähnliche Richtung: Christen sollten sich in der Corona-Krise auf ihren geistlichen Auftrag besinnen. Sich nicht über Sinn und Unsinn von Maßnahmen zerstreiten, weder in Angst verharren noch Misstrauen gegen politisch Verantwortliche schüren oder sich leichtfertig über Hygiene-Richtlinien hinwegsetzen und dabei andere gefährden. Sondern das Evangelium verkündigen, die Liebe Gottes bezeugen, Fürbitte halten, sich auf Jesus ausrichten.
Jeder fromme Christ wird diesen Punkten zustimmen können. Aber Corona droht manche Maßstäbe zu verschieben, scheint es. „Wir weisen Verschwörungstheorien und unsolidarische Verhaltensweisen ausdrücklich zurück. Vielmehr fordern wir Christen heraus, durch ihr Reden und Verhalten versöhnend in unsere Gesellschaft hinein zu wirken“, heißt es etwa im Papier der DEA. „In jedem Fall muss die Sprache, derer Christen sich in öffentlichen Debatten bedienen, dem Gebot und Vorbild unseres Herrn und seiner Apostel entsprechen“, formuliert das andere Papier und stellt klar: Im Mittelpunkt des Gemeindelebens sollten geistliche Ziele stehen, „keine politischen oder medizinischen Diskussionen“.
Lichter der Hoffnung aussenden
Beide Aufrufe betonen als ersten Punkt, dass Christen an einen lebendigen Gott glauben, dem auch die Corona-Krise nicht entgleitet. „Wir fordern Christen auf, durch ihr gelebtes Gottvertrauen andere zu ermutigen, dieses Vertrauen zu wagen“, schreibt die DEA.
Die Corona-Krise kann zu einer Krise der christlichen Gemeinde werden. Nicht nur, weil die Maßnahmen gegen das Virus das Gemeindeleben einschränken, weil Menschen aus Sorge vor Ansteckung nicht mehr in den Gottesdienst kommen und rein virtueller Kontakt die Anbindung an eine Gemeinde auf Dauer zumindest nicht verstärken wird. Sondern auch, weil die Pandemie und die Maßnahmen dagegen geeignet sind, dass Christen sie zur Glaubensfrage machen – und dabei aus dem Blick verlieren, dass sie eigentlich eine ganz andere Botschaft haben: die von einem Gott, der die Welt erschaffen hat und erhält; von einem Gott, der die Menschen liebt und sich an ihre Seite gestellt hat; von einer Hoffnung, die im Leben trägt und über den Tod hinausgeht.
Deshalb kann die Corona-Krise auch eine enorme Chance der Gemeinde werden: Wer, wenn nicht Christen, könnte Antworten auf wieder neu gestellte existenzielle Fragen geben? Wer könnte bezeugen, dass es tragfähigen Halt und Heil auch jenseits von Impfstoffen gibt? Im Pandemie-Herbst braucht es doppelt Lichter der Hoffnung. Der Advent wirft sein Leuchten voraus. Gut, dass die Aufrufe daran erinnern, den Fokus wieder neu auszurichten: weg von der Pandemie, hin auf Jesus.