„Wenn der Pastor predigt, sind alle wie in Trance“, kommentiert die Sprecherin die Lobpreisszenen in der Arte-Sendung „Vox Pop“. Die Bilder stammen aus der schwarzen Gemeinde „SPAC Nation“ in London, die gerade ihren Glauben mit ausgelassener Musik feiert. „Dies ist kein Rap-Konzert, sondern eine Sonntagsmesse“, heißt es im Arte-Beitrag. Natürlich sind Messen eigentlich katholische Gottesdienste, aber geschenkt.
Die Gemeinde sei gegründet worden, um Jugendliche von der Straße zu holen. Über sie sagt Pastor Tobi Adegboyega: „Wir müssen in ihre Welt eintauchen, sie aber selbst entscheiden lassen.“ Das sei eine „bewährte Strategie“, heißt es aus dem Off, viele Mitglieder seien ehemals Kriminelle. Adegboyega, der einen Sportwagen fährt und Rolex trägt, erklärt seinen Lebensstil damit, dass die Jugendlichen ihn dann ernster nähmen. „Wenn ich in Lumpen predigen müsste, um sie zu erreichen, dann würde ich Lumpen tragen.“
Verdopplung in zehn Jahren
Dann geht es um einen Straßenprediger, der Gottes Gericht über Großbritannien ankündigt. „Die Evangelikalen wissen, wie man kommuniziert, sich in Szene setzt und aggressiv missioniert. Und sie legen überall zu“, heißt es im Beitrag. Es folgen Zahlen, bei denen sich der Zuschauer verwundert die Augen reibt: In Großbritannien hätten sich die Evangelikalen in 20 Jahren vervierfacht, in Deutschland in zehn Jahren verdoppelt und in Frankreich hätten sie alle zehn Tage eine neue Kirche gegründet. Woher diese fantastischen Zahlen stammen, ist nicht bekannt. Sie widersprechen zumindest für Deutschland allen bekannten seriösen Erhebungen. In Deutschland hat der relativ größte Anteil der Evangelikalen in Landeskirchen ihre geistliche Heimat, die nicht gerade für übermäßiges Wachstum bekannt sind. Auch die Freikirchen stagnieren überwiegend. Lediglich im Bereich der charismatischen und Pfingstgemeinden gibt es deutlicheres Wachstum. Aber dass sich die Gesamtzahl von geschätzt etwa einer Million Evangelikalen seit 2010 verdoppelt habe, davon kann keine Rede sein.
Die Arte-Autoren kritisieren, dass die wachsenden Kirchen Prinzipien aus der Wirtschaft anwenden, „denn manchen Kirchen ist ihr Umsatz wichtiger als das Seelenheil ihrer Schäfchen“. Als Schnittbild muss ein Rosenkranz herhalten, der auf einem 20-Euro-Schein liegt. Als Zuschauer fragt man sich unweigerlich, ob die französischen Autoren wirklich nicht wissen, dass ein Rosenkranz ein typisch katholisches Symbol ist. Da wundert es nicht, dass Frömmigkeitsformen, die sich von denen der „l’Église catholique“ unterscheiden, sie offenbar in hohem Maße irritieren.
Nah im Bereich der Verschwörungstheorien
Ausgerechnet Justin Welby, der populäre Erzbischof von Canterbury, ist im Arte-Film ein Indiz dafür, dass die Evangelikalen die Anglikanische Kirche „unterwandert“ hätten. Ein Hinweis: Vor der Robe des Erzbischofs habe er Business-Anzüge getragen „und machte Karriere mit Erdöl in Afrika“. Er habe nach seiner Wahl Evangelikale auf alle Schlüsselposten gesetzt. Wer schon häufiger Beiträge dieser Art gesehen hat, weiß, was jetzt kommen muss: Die Evangelikalen sind reich, wissen, wie man an Großspender kommt, und sie kaufen sich mit ihrem Geld politische Macht in Kirche und Gesellschaft, so stellt es auch hier ein Journalist fest.
Wie viel Geld sie haben, was „die Evangelikalen“ kaufen und wie viel Geld sie im Verhältnis zu anderen haben – all das wird nicht erwähnt. Damit bewegt sich „Vox Pop“ gefährlich nahe an den Bereich der Verschwörungstheorien: Natürlich kann es zutreffen, dass Evangelikale sich Macht und Einfluss kaufen. Doch wer solche Behauptungen aufstellt, muss sie auch belegen können. Es reicht jedoch nicht, zu erwähnen, dass es auch Evangelikale gibt, die viel Geld besitzen. Nicht auszudenken, welche Theorien gestrickt würden, sollte Milliardär Bill Gates, schon jetzt Zielscheibe von Verschwörungstheorien, demnächst sein Coming-Out als Evangelikaler verkünden.
Doch so reicht es für „Vox Pop“ schon, wenn die Church of England ein Schulungszentrum für Kirchengründungen mit Strategien aus der Start-Up-Szene garniert, um ein Geschmäckle zu finden.
Dann endlich gelangt der Film auch an tatsächlich höchstproblematische Erscheinungen am Rande des Evangelikalismus, etwa das Wohlstandsevangelium: Bekehre dich, dann wirst du reich. Dahinter stecken meist Scharlatane, die ihren Mitgliedern das Geld aus der Tasche ziehen, um selbst reich zu werden. Möglicherweise gehört auch die „SPAC Nation“-Church aus London dazu. Eine empörende Praxis. Gut, dass im Arte-Beitrag auch ein evangelikaler Kronzeuge zu Wort kommt, der den wohl tatsächlichen evangelikalen Konsens formuliert: Der von Gott versprochene Reichtum sei „vor allem spiritueller Art“.
Auch von einem Finanzskandal im Bereich des Immobilienbetrugs ist die Rede, laut Film „nicht der erste Betrugsfall in der evangelikalen Kirche“, um dann weitere Fälle aus Großbritannien, Norwegen und der Ukraine zu erwähnen. Die Hinweise verdichten sich immer mehr, dass man in den Arte-Studios an die Existenz einer verfassten evangelikalen Kirche glaubt. Bei der Abmoderation wird aus Vermutung Gewissheit: „Heute gibt es etwa 23 Millionen Evangelikale in Europa, Tendenz steigend. Jedes Jahr treten weltweit zehn Millionen Menschen der evangelikalen Kirche bei.“ Da ist sie also wieder, diese „evangelikale Kirche“ – die es in dieser Form gar nicht gibt. Im französischen Original ist immerhin nur von „Konvertierung“ die Rede. Dennoch passt der Fehler zum Gesamteindruck: Ja, es gibt problematische Praktiken. Aber gerade bei einer eher unbekannten Bewegung wie der evangelikalen ist Differenzierung umso wichtiger. Der weit überwiegende Teil europäischer Evangelikaler dürfte über Wohlstandsprediger, Finanzbetrüger und pseudofromme Machtmenschen ebenso die Nase rümpfen wie alle anderen.
Der Beitrag „Vox Pop: Evangelikale – Missstände aufdecken“ lief am Sonntag um 11.35 Uhr auf Arte und wird am 21. Mai um 6.40 Uhr und am 13. Juni um 3.30 Uhr wiederholt.