Das gab es noch nie. Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde das öffentliche Leben in unserem Land flächendeckend derart lahmgelegt: Wegen des Coronavirus werden von diesem Montag an in allen Bundesländern vorsorglich die Schulen und viele Kindergärten erst einmal für mehrere Wochen geschlossen. Zahlreiche Hochschulen, Pflegeheime und öffentliche Einrichtungen bleiben für den Publikumsverkehr zu, in vielen Städten gibt es Sonderregelungen im öffentlichen Nahverkehr und etliche Restaurants können nur unter Auflagen öffnen. Nahezu alle aktuellen Messen und Großkonzerte sind abgesagt. Zahlreiche Kirchengemeinden zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen strichen an diesem Wochenende ihre Gottesdienste oder verzichteten zumindest aufs Abendmahl – und erstmals wird von diesem Dienstag an wohl auch der komplette Spielbetrieb der Fußballbundesliga ausgesetzt.
Die Bedrohung ist unsichtbar. Das Virus wirkt grenzüberschreitend. Und es ist offenbar hoch infektiös. Mediziner in aller Welt sagen allerdings auch: Es gebe größere Gesundheitsgefährdungen als Corona – allerdings ist ein wirksamer Impfschutz gegen die neuartige Atemwegserkrankung Covid-19 offenbar noch in weiter Ferne. Corona war Ende Dezember 2019 erstmals in der chinesischen Provinz Hubei aufgetreten. Seit Februar breitet es sich stark in Europa aus. Und immer mehr Länder machen ihre Grenzen dicht: Allein in der EU, für die der ungehinderte Personen- und Warenverkehr zu den wichtigsten freiheitlichen Grundwerten zählt, wurden innerhalb weniger Tage mehr Schranken geschlossen, als es die Anti-Terror-Lage nach dem 11. September 2001 und die Flüchtlingskrise seit 2015 bewirkt hätten.
Neben der objektiven Bedrohung der Gesundheit vieler Menschen offenbart die sogenannte Corona-Krise ein anderes Phänomen: Es ist psychischer Natur. Und es hat zu tun mit unserer digital beschleunigten Kommunikation und mit der vielfältigen Vernetzung fast aller Lebensbereiche: Jeder Mensch – egal, ob vom Virus infiziert oder nicht – ist von Corona persönlich betroffen. Ein großer Teil all unserer Gedanken und Kommunikationen dreht sich mittlerweile um dieses Thema: Wir erleben eine gesamtgesellschaftliche, kollektive Verunsicherung. Im weltweiten Maßstab könnte man fast von einer Globalisierung der Angst sprechen. Innerhalb weniger Tage und Wochen erlebt quasi jeder Mensch Auswirkungen am eigenen Leib.
Firmenchefs, Banker, Hoteliers und Händler korrigieren ihre Finanzplanungen. Millionen Bürgerinnen und Bürger stornieren traurig ihre geplanten Urlaube. Und wer nicht selbst infiziert oder von den Gesundheitsbehörden als gefährdet eingestuft ist, kennt mittlerweile Personen, die Virusträger sind oder vorsorglich unter Quarantäne gestellt wurden. In der neuen Woche werden Millionen Mütter, Väter oder Angehörige von Menschen in Seniorenheimen kurzfristig Lösungen finden müssen, wie ihre Kinder betreut oder pflegebebürftige Eltern besucht werden können.
Gottes Geist ermutigt und befähigt, das Gute zu suchen
Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD, 1918–2015) ging als unfreiwilliger Krisenmanager in die Geschichte ein. 1977 trug er die politische Verantwortung, als Terroristen der linksextremistischen Roten Armee Fraktion (RAF) mit blutigem Terror die Bundesrepublik herausforderten. „Die Deutschen neigen zur Angst“, sagte Schmidt in einem Interview. Zum Ende seines langen Lebens, das mehrfach bedroht war, machte er aber immer wieder deutlich: Vernunftgeleitetes, abgewogenes, mutiges Entscheiden und Handeln seien wichtig. Auch wenn man gelegentlich Fehler mache. Sich zu fürchten sei menschlich, Angst sei dennoch ein schlechter Berater.
Ein solches vernunftgeleitetes Denken im Umgang mit großen Herausforderungen hat spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung Europa positiv mitgeprägt. Es wurzelt bereits in den Maßstäben und in der Ethik des Christentums, die schon im Neuen Testament der Bibel formuliert sind: Vor 2000 Jahren schrieb der Apostel Paulus an seinen jungen Mitarbeiter Timotheus: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1, 7).
Es ist verständlich, dass in Zeiten der Krise, die durch eine fast unwirkliche Bedrohung und viele negative Folgewirkungen geprägt ist, etliche Menschen verunsichert, ratlos, entmutigt und ängstlich sind. Selbst starke Persönlichkeiten können jetzt überfordert sein. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen in Verantwortung, gerade auch Kirchenvertreter und Christen, sich dieses anderen Geistes besinnen, von dem die Bibel lehrt, dass der unsichtbare, ewige, dreieinige Gott genau hierdurch wirkt. Es ist der Geist, der Menschen ermutigen, befähigen, stärken kann, gemeinsam mit anderen immer wieder das Gute zu suchen. Wenn Paulus von neuer „Kraft“ spricht, dann weiß er, wovon er redet – völlig kraftlos sei er gewesen, doch dann habe er persönlich die Gnade erfahren, dass Gottes „Kraft ist in den Schwachen mächtig“ sei (2. Korinther 12, 9).
Besonnenheit – die Tugend der Stunde
Ein wesentlicher Gedanke der christlichen Ethik ist, dass die Liebe nicht erkaltet: Gerade dann, wenn quasi alle herausgefordert und womöglich überfordert sind, ist es wichtig, dass wir solidarisch mit den Schwächsten sind und dass sie menschliche Zuwendung erfahren. Auf der anderen Seite verdienen auch jene Unterstützung und manchmal auch Nachsicht, die engagiert und verantwortungsbewusst um Lösungen ringen – aber dabei nicht immer gleich erfolgreich sind.
Die Besonnenheit, von der Paulus spricht, ist vielleicht eine der in unserem Zeitalter wichtigsten Tugenden: In Zeiten, in denen viele denken, wir könnten mit ein, zwei Klicks alle Probleme lösen, und in denen zugleich rasend schnell nicht nur hilfreiche Informationen, sondern auch Fake News – manipulativ verbreitete, vorgetäuschte Informationen – und hasserfüllte Kommentare verbreitet werden, ist es wertvoll, sich zu besinnen: Gerade in schwierigen Situationen ist überlegtes, reflektiertes, selbstbeherrschtes Entscheiden und Handeln unverzichtbar.
Unsere Politiker und Entscheider machen in diesen Tagen sicher nicht alles richtig. Dennoch ist erkennbar, dass die meisten überlegt und besonnen agieren: Als Kanzlerin Angela Merkel, ihr Kabinett und fast alle Ministerpräsidenten Ende voriger Woche einschneidende und sofort wirksame Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigten, haben sie folgendes betont: Es geht momentan darum, die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus erst einmal zu verlangsamen. Sie haben nicht erklärt, dass sie schon einen Masterplan hätten, wie es dann weitergeht. Das ist ehrlich – und es ist die richtige Begründung zum jetzigen Zeitpunkt, selbst wenn sich später einiges als nicht sinnvoll erweisen sollte.
Christen haben auch die Möglichkeit zu beten. Zum Beispiel für die Mediziner und Pflegekräfte, die unsere Kranken und Schwachen betreuen, für die Wissenschaftler, die in großer Eile nach Therapien und einem Impfstoff gegen Corona forschen. Und unsere Politiker und andere Verantwortungsträger brauchen ebenso Gebet wie jene Betroffenen, die ängstlich und einsam mit ihrer Lebens- oder Krankheitssituation überfordert sind. Gottes Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit will uns dabei helfen.
Christoph Irion ist Geschäftsführer der Christlichen Medieninitiative pro e.V.