Am 20. Februar 2020 ermordet Tobias R. in Hanau zehn Menschen, neun von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Ein Einzeltäter. Am 9. Oktober 2019 attackiert Stefan B. die Synagoge in Halle, er erschießt zwei Menschen. Ebenfalls ein Einzeltäter. Am 2. Juni 2019 erschießt Stephan E. Regierungspräsident Walter Lübcke auf dessen Terrasse in Kassel. Auch er ein Einzeltäter.
Und so wiegelte Alexander Gauland (AfD) im Interview der Tageszeitung „Die Welt“ die Frage nach der politischen Intention des Täters von Hanau ab, vielmehr sei der Mann ein „völlig geistesverwirrter Mensch“.
Tobias R. hat ein Bekennerschreiben hinterlassen. In der Tat: Das Schreiben ist ziemlich wirr. Es wimmelt von Verschwörungstheorien. Doch Tobias R. benennt darin auch eindeutig rassistische und rechtsextreme Motive. Die Täter in Halle und Kassel hatten antisemitische und rechtsextreme Hintergründe.
Der Verfassungsschutz beziffert „das rechtsextremistische Personenpotenzial Ende 2018 (auf) insgesamt 24.100 Personen“. 19.409 rechtsextremistische Straftaten und 1.088 rechtsextremistische Gewalttaten wurden nach Angaben des Verfassungsschutzes aktenkundig. Die einzelnen Taten, das wird mehr als deutlich, sind keine Einzelfälle. Wer die Tat von Hanau nur auf die psychische Verfassung des Täters zurückführt, macht es sich entweder zu leicht. Oder lenkt ab, gezielt und methodisch.
„Nicht mein Bier?“
Einen Tag nach Hanau habe ich in den Sozialen Medien ein Foto gepostet: Ein Bierglas mit dem Spruch „This is not my beer!“. Dazu diesen kurzen Kommentar: „Nicht mein Bier? Nach Hanau und Halle? Nach dem Mord an Walter Lübcke? Es ist unser Bier, unser Land, unsere Demokratie. Nicht nur ‚die da oben‘, wir alle sind gefragt.“
Sofort zucken Reflexe bei einigen Facebook-Nutzern. Jemand schrieb: „Und deshalb dürfen alle Mitglieder und Wähler der AfD, sowie diejenigen, die EU, Migration und Energiewende kritisieren, vom medial-politischen Establishment zu Freiwild erklärt werden? Hauptsache man muss nicht über islamischen und linken Terror reden.“
Mal abgesehen davon, dass ich weder die AfD genannt hatte, noch dass sich mir der inhaltliche Zusammenhang mit der EU oder der Energiewende erschließt, fällt das – sich eindeutig wiederholende – Muster ins Auge: Erneut wird vom eigentlichen Thema abgelenkt. Im Englischen gibt es einen Begriff, der sich leider nicht direkt übersetzen lässt: „Whataboutism“ bedeutet soviel wie „Und-was-ist-mit-den-anderen-Reflex“. Wikipedia definiert: „Es bezeichnet heute allgemein die Ablenkung von unliebsamer Kritik durch Hinweise auf ähnliche oder andere wirkliche oder vermeintliche Missstände auf der Seite des Kritikers“.
„Wer vom Thema ablenkt, macht sich mitschuldig“
Natürlich gibt es linksextreme und islamistische Gewalt. Und ja, nicht nur Hitler, sondern auch Stalin war ein Massenmörder. Das muss man sagen dürfen, richtig. Nur: jedes Thema gehört an seinem Ort verhandelt. Niemals dürfen die Taten der anderen dafür benutzt werden, die eigenen Verbrechen zu relativieren.
Wir dürfen auf diese perfiden Manöver der Ablenker und Relativierer nicht hereinfallen. Nach Hanau, Halle und Kassel kann es nichts anderes geben als klare Kante. Gegen Rassismus. Gegen Rechtsextremismus. Gegen Antisemitismus. Das ist hier das Thema. Wer davon ablenkt, macht sich ebenso mitschuldig, wie diejenigen, die mit Verbalattacken und Hassreden den Boden für die Taten der Rechtsextremisten bereiten.