Die Medien kommentieren die Zahl der Kirchenaustritte mit den Superlativen „desaströs“, „dramatisch“, „deprimierend“. Das Internetportal Katholisch.de sieht darin „den letzten Warnschuss!“ Wir brauchen die Kirchenaustritte nicht zu beklagen, denn da trennt sich Spreu vom Weizen.
Ich finde diese Schrumpfung gut und sehe keinen Grund, Krokodilstränen zu vergießen oder die Endzeit zu beschwören. Denn dieser quantitative Abbau wird der auf staatlich garantierter Kirchensteuer weich gebetteten Kirche zu neuer Qualität verhelfen. Monetäre Verluste tun der Kirche gut. Nur so wird sie zurückfinden zu ihrer ureigenen Qualität, wie sie in Apostelgeschichte 2,42–47 beschrieben wird.
Die Medien frohlocken unverhohlen über diese deprimierende Bilanz und runden schon mal locker von 436.000 auf eine halbe Million auf. So manche Kommentare können ihre frivole Genugtuung kaum verbergen, sie haben es ja schon immer gewusst, dass „diese“ Kirche zu Recht den Bach runter geht.
Richtige Reaktion eines demütigen Priesters
Einer meiner Nachbarn, ein passiver Katholik, der seit 20 Jahren seine Kirche nicht mehr von innen gesehen hat, hat seinen Austritt schriftlich begründet. Die verschleppte Aufdeckung der Missbrauchsfälle hat ihn dermaßen geärgert, dass er kein Vertrauen mehr in die Kirche hat. Er beklagt Musik von Vorgestern, Predigten, die sein Herz nicht erreicht haben, Rituale, die ihm immer fremd geblieben sind. Mit der Bibel weiß er nichts anzufangen. Wenige Tage später zeigte er mir den Brief des zuständigen Priesters. Ein Musterexemplar von demütiger Aufrichtigkeit, echtem und ehrlichem Schuldbewusstsein und aufrichtiger Bitte, der Kirche noch einmal eine Chance zu geben. Ich habe sofort dem Verfasser des Briefes gedankt. Wir schätzen uns von diversen Begegnungen in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen.
Wenn Kirche so reagiert, dann hat sie alle Chancen, wieder zurück zu den Menschen zu finden, zum Einzelnen. Insofern sehe ich keinen Grund zur Klage. Die beiden Volkskirchen erleben in den vergangenen 30 Jahren einen rasanten Verlust an Masse. Sie halbieren sich und gewinnen urbiblische Qualitäten zurück. Die Kirche in ihrer Gesamtheit liegt auf der Intensivstation und hängt wirtschaftlich an der Infusion namens Kirchensteuer, der freikirchliche Teil am Tropf der Spender, die den Hahn zudrehen, wenn ihnen die politische oder theologische Ausrichtung missfällt. Das ist den Landeskirchen auch nicht fremd.
Aber diese Diagnose ist – Gott sei Dank! – nur eine Momentaufnahme, ein kleiner Ausschnitt aus der jungen Kirchengeschichte und dies auch nur im satten Mitteleuropa.
Kirche weltweit lebt!
Denn dieser bedrückenden partikularen Diagnose steht die universale und ungemein hoffnungsgeladene Perspektive von Kirche gegenüber; sie leibt und lebt, sie gedeiht weltweit, weil Christus das Haupt der Kirche ist. Ecclesia semper reformanda! Die Kirche muss immer reformiert werden. Und diese Reformation beginnt bei dir und mir, oder sie fällt aus. Während die Freikirchen ihre Mitglieder zu Mitarbeit und finanzieller Mitverantwortung verbindlich in die Pflicht nehmen, scheinen Gemeinden landes- und volkskirchlicher Struktur ihre Mitglieder praktisch gar nicht (mehr) in die Pflicht zu nehmen. Die Pflicht, Kirchensteuer zu zahlen, ist so ziemlich die einzige und letzte, die die Volkskirche dem Volk abverlangt. Keiner wird zur Teilnahme am kirchlichen Leben oder zum öffentlichen Zeugnis verpflichtet. Niederschwelliger geht’s kaum noch: Wir taufen, konfirmieren, trauen und beerdigen fast jeden. Zuspruch ohne Anspruch! Das Dilemma der Volkskirche. Es wird grundsätzlich niemand ausgeschlossen. Wer gehen will, muss selber gehen. Vorher ist jeder Atheist, Neo-Buddhist oder Neo-Schamane im volkskirchlichen Sinn noch ein Christ.
Zurückgehende Mitgliederzahlen können die Kirche nicht substanziell schädigen. Eine monetär arme Kirche wird sich von allem Luxus trennen und zurück zu ihrer eigentlichen Qualität finden. Ich wünsche den Landeskirchen keine zunehmenden Steuereinnahmen. Da wird ein müder Leib mangels geistlicher Substanz an die Infusion gehängt und durchgefüttert, anstatt mit wenig viel zu bewegen: Evangelisation und Jüngerschaft. Das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Dann wäre bald Schluss mit: „Selig sind die Beine, die am Altar stehen alleine!“