1873 wurde der Roman „Von der Erde zum Mond“ des französischen Schriftstellers Jules Verne in der deutschsprachigen Ausgabe veröffentlicht. In Frankreich war der Roman bereits 1865 erschienen. Er schildert, wie Menschen mit einem bemannten Geschoss den Erdtrabanten erreichen wollen. In seinem Werk nahm der Science-Fiction-Schriftsteller Verne die Geschichte der Mondfahrt um rund hundert Jahre vorweg.
Am 21. Juli 1969 betraten mit Neil Armstrong und Buzz Aldrin, zwei der drei Astronauten der Apollo 11 Mission, die ersten Menschen den Mond. Der Schuss zum Mond gelang. In der Romanvorlage verfehlten die Abenteurer zunächst ihr Ziel.
An die dem Science-Fiction-Genre eigenen wissenschaftlich-technischen Spekulationen haben sich Menschen spätestens seit Kinofilmen wie „Star Wars“, „Blade Runner“ oder der Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ gewöhnt. In dem Film „Matrix“ schließlich sind Menschen über eine implantierte Schnittstelle mit der virtuellen Welt der Computer verbunden – und werden dort versklavt. Hirngespinste, mögen Kritiker bei der Veröffentlichung 1999 darüber gedacht haben. Jedoch: Weit gefehlt.
Wenige Schritte bis zur Matrix?
Der Unternehmer Elon Musk hat mit seiner Firma SpaceX das Vorurteil aus der Welt geräumt, nur ein kleiner elitärer Club staatlich subventionierter Firmen in den USA, Europa, Indien und China sei in der Lage, Raketen und damit Satelliten in den Weltraum zu befördern. Nun will der umtriebige und geschäftstüchtige Milliardär nicht nur mit einer bemannten Mission den Mars erreichen, sondern auch mit seiner Firma Neuralink den Zugang zum menschlichen Gehirn erschließen. Was ist, wenn Musk mit seinem neuesten Vorhaben ähnlich erfolgreich sein wird wie mit SpaceX? Stehen wir dann vor der Matrix?
Musks Plan: Ein Roboter soll im menschlichen Gehirn hunderte Elektroden implantieren und deren Drähte zu einer Art Schnittstelle zusammenführen, mit der ein Computer Zugang zum Gehirn erhält. Neu sind nun zwei Dinge. Einmal, dass ein ambitionierter Unternehmer sich des Themas angenommen hat. Die Vermutung drängt sich auf, dass Musk sein Vorhaben nicht ausschließlich aus altruistischen Motiven heraus angeht. Am Ende soll vermutlich die Kasse klingeln. Das treibt an.
Neu ist auch die schiere Anzahl der Implantate. Medienberichten zufolge haben dazu bereits Tests mit Tieren stattgefunden. Demnach wurden Ratten mehrere Hundert Elektroden implantiert. In dem Projekt sind erste Etappenziele also erreicht. Nun wirbt Musk für sein Vorhaben und sucht Probanden. Seinem Willen nach sollen entsprechende Tests am Menschen bereits im zweiten Quartal 2020 stattfinden, berichtete der Spiegel am Mittwoch.
Sozialverhalten aus dem App-Store
Dem Bericht zufolge sollen die Implantate in erster Linie Menschen mit Behinderungen helfen. „Im Grundsatz ist Musks Vision für Neuralink jedoch deutlich umfassender. Dem Unternehmer schwebt eine Art App-Store vor, über den sich Nutzer des Systems neue Fähigkeiten sozusagen direkt in ihr Hirn laden können“, schreibt das Nachrichtenmagazin.
Bis das alles so weit ist, sind noch Hürden zu nehmen. Eine Genehmigung für eine entsprechende Testreihe an Menschen liegt dem Unternehmer nach Spiegel-Angaben noch nicht vor. Die grundlegende Hürde liegt jedoch in der Frage: Sind wir als Menschen willens, uns mit Maschinen zu verbinden? Die Antwort auf diese Frage ist mehr oder minder bereits getroffen. Gerne nehmen wir aus medizinischen Gründen die Technik zur Hilfe. Die Technik ist dabei nicht mal so neu. Etwa Parkinson-Patienten kann bereits mit dieser ersten Ausbaustufe der Technik geholfen werden, auch Menschen mit Epilepsie. Ein Freund profitiert bereits davon. Wer würde, selbst bei kritischster Nutzen-Risiko-Abwägung, einem Querschnittsgelähmten die Technik zur Überwindung der Behinderung versagen?
Das Vorhaben Musks, dem menschlichen Gehirn Informationen gezielt und dauerhaft zu übertragen, darf aber nicht blauäugig bewertet werden. Auch ohne Soziologiestudium hat sich bei den meisten Menschen die Erkenntnis durchgesetzt, dass beispielsweise das Sozialverhalten eines Menschen in weiten Teilen – oft gar mühevoll oder schmerzhaft – erlernt wird. Soll es etwa möglich sein, in Zukunft einem Menschen, etwa im Strafvollzug, vielleicht entgegen seinem erklärten Willen ein gemeinschaftsdienliches Sozialverhalten – nach der jeweils vorherrschenden Sicht der Regierenden – aus einer Art sozialem Rehab-App-Store zu implementieren? Oder wollen wir zugunsten des Klimaschutzes auf Forderungen der Umweltaktivisten eingehen und den Flugverkehr deutlich einschränken und stattdessen Urlaubserinnerungen über die Schnittstelle in unser Gedächtnis übertragen lassen? „Total recall“, ein Film mit Arnold Schwarzenegger, spielte bereits 1990 mit diesem Motiv.
Keine Grenzen für die Phantasie
Beim Besuch einer der ersten Fachmessen zum Internet, der Internet World in Berlin, hörte ich einen Vortrag des Internetpioniers Ossi Urchs. Der Mann mit exotischer Langhaarfrisur und Hawaii-Hemd sprach vor dem Publikum darüber, dass man in nicht zu ferner Zukunft mit mobilen Telefonen seinen Kaffee zahlt, dass Geräte miteinander kommunizieren, seine Hosen damit ordert und dass Internet überall verfügbar sein wird. Ein nicht kleiner Teil des Publikums verließ – ich vermute, es waren wegen der gesalzenen Eintrittspreise und der seriösen Anzüge überwiegend Banker – den Vortrag. Das ist schätzungsweise 25 Jahre her. Weil ich damals sitzen blieb und seitdem miterlebt habe, wie vermeintliche Science-Fiction-Vorstellungen peu à peu zur Realität wurden und wie ich diese ganz selbstverständlich nutze, horche ich heute gespannt auf, wenn ich Ankündigungen wie diese von Musk höre. Die menschliche Phantasie kann im Hinblick auf die Realisierung von vermeintlich Unmöglichem nicht groß genug sein. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Landung auf dem Mond vor 50 Jahren. Das gilt für das Gute, wie für das Schlechte. Darüber sollten wir uns klar werden.
Nebenbei: Musk hält die Kombination von Mensch und Computer für den einzigen Weg, in Zukunft eventuell einer übermächtigen Künstlichen Intelligenz (KI) Paroli zu bieten. Die Entscheidung, ob wir KI zulassen wollen – oder wie weit –, ist uns längst aus der Hand genommen.
Von: Norbert Schäfer