Im September 2016 habe ich in einem Kommentar auf dieser Seite geschrieben: „Wenn Worte töten könnten, dann hätte sicherlich fast jeder einige Leichen im Keller. Schon der Apostel Jakobus schreibt in seinem biblischen Brief davon, was die Zunge für ein kleiner Körperteil ist und wie sie sich doch so schwer in Zaum halten lässt. Wie ‚ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an!‘. Mit dem, was wir sagen und wie wir das tun, können wir andere Menschen verletzen. Nicht nur in ihrer Seele: Worte können verletzen und töten, wenn daraus Taten werden.“
Nun scheint genau das geschehen zu sein. Ein Rechtsextremist steht unter dringendem Tatverdacht, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen zu haben. Zahlreiche Kommentatoren sehen eine Verbindung zwischen Hetze im Netz und dem Mord: Hassgetränkte, aggressive Sprache, vor allem in den Sozialen Medien, bietet den Nährboden dafür, dass aus Drohungen auch Wirklichkeit werden kann. So schreibt es etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Sollte sich der Tatverdacht erhärten, wäre das „der schaurige Höhepunkt einer leider nicht beispiellosen Hetze in asozialen Netzen“, heißt es in einem anderen Kommentar der Zeitung. Der CDU-Politiker Peter Tauber machte „die Entgrenzung der Sprache“ seitens der AfD mitverantwortlich für den Mord und kritisierte dabei namentlich seine frühere Parteikollegin Erika Steinbach.
Lübcke war wegen seiner flüchtlingsfreundlichen Politik vor seinem Tod massiv angefeindet worden. Auch andere Politiker bekommen Morddrohungen. Aber dass einer förmlich hingerichtet wird mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe, das ist eine neue, furchterregende Dimension.
Die problematische Macht der Gewohnheit
Klar ist: Ein bestimmtes öffentliches Klima kann solche Gewalttaten erleichtern, wenn nicht ermöglichen. Die Grenzen dessen, wie man über jemanden sprechen kann und immer noch genügend soziale Anerkennung genießt, haben sich in den vergangenen Jahren weiter verschoben. Die Sozialen Netzwerke bieten dafür eine ideale Voraussetzung, weil es sich dort, gestützt und geschützt von der Masse der anderen Nutzer, viel leichter über andere herziehen lässt, als wenn man einer Person gegenübersteht. Das ist das eine Problem.
Das andere ist: Wir gewöhnen uns daran. Für Politiker gehört es mittlerweile dazu, im Netz und anderswo beschimpft zu werden. Wir Nutzer sind über den Tonfall kaum noch überrscht, regen uns vielleicht über den einen oder anderen überzogenen Kommentar auf, und scrollen dann weiter. Und diejenigen, die hetzen, beleidigen, beschimpfen, gewöhnen sich auch daran: Dass sie es in den meisten Fällen ungestraft tun können und von anderen Applaus dafür bekommen.
Wenn Menschen in erster Linie Ziel unserer Schimpf und Schande sind, wenn wir sie abwerten und schlechtmachen, wenn sie zum Sinnbild etwa für eine abgelehnte Politik werden, verblasst in unserer Wahrnehmung der Mensch dahinter. Ist ein Mensch erst einmal kein Mensch mehr, sondern der Müllhaufen unserer Wut, Hass und Ohnmacht, wird es je länger je einfacher, ihn unmenschlich zu behandeln, ihm im Extremfall sein Existenzrecht abzusprechen – oder zu nehmen. „Dehumanisierung“, das ist eine rhetorische Strategie, die schon oft in der Geschichte entsetzliche Gewalt nach sich zog. Auch in Deutschland. Dass diese Mechanismen nach wie vor so funktionieren, zeigt der Mord an Lübcke sehr deutlich. Aber auch alle anderen jüngeren Angriffe auf Politiker oder Journalisten, die – Gott sei Dank – nicht im Mord gipfelten, zeugen davon.
Selig sind nicht die Hetzer und Polemiker
Man möchte meinen, dass Christen es eigentlich besser wissen müssten. Dass sie wüssten, was Jesus gesagt und Jakobus geschrieben hat. Oder Salomo: „Der Frevler Reden richten Blutvergießen an; aber die Aufrechten errettet ihr Mund.“ (Sprüche 12,6). Leider sind Fromme nicht immer Vorbilder in den Kommentarspalten der Sozialen Medien. Auch aus ihrer Tastatur triefen Polemik, Geringschätzung, übelmeinender Sarkasmus und zerstörerische Unterstellungen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um Meinungen und die Freiheit, sie zu äußern, sondern um den Tonfall.
Selig sind die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Frieden stiften (Matthäus 5). Wo könnten Christen heute besser zeigen, wes Geistes Kind sie sind, als in den Kommentarspalten von Facebook und Nachrichtenmedien? Dazu müssten sie nicht einmal vom Sofa aufstehen.