Ich war gerade zwei Jahre Pastor, als die Kinder eines Verantwortlichen unserer Denomination mir berichteten, sie würden regelmäßig schwer missbraucht. Unerfahren wie ich war, versuchte ich, es kirchenintern anzugehen. Am Ende wurde ich versetzt und erst später gab es polizeiliche Ermittlungen und die Wahrheit kam ans Licht. Die Kinder sind mir allerdings bis heute dankbar, dass ich immerhin durch mein Eingreifen den Missbrauch beendet habe. Heute dränge ich darauf, dass Kirchen strenge Richtlinien für Gewalt und sexuellen Missbrauch allgemein und in Bezug auf Minderjährige im Speziellen haben, sofort die zuständigen staatlichen Strafverfolgungsbehörden einschalten und etwa die Opfer, sofern zumutbar, unmittelbar zu den für Beweisaufnahmen zuständigen Stellen zu bringen.
Der Fall Bill Hybels und Willow Creek im evangelikalen Umfeld, in dem es nicht um Minderjährige ging, zeigt alle Muster des üblichen Ablaufs, mit dem sich die Katholische Kirche derzeit tausendfach herumschlägt. Der Täter leugnet, trotz sehr fadenscheiniger Erklärungen kompromittierender Situationen wird ihm geglaubt, andere Verantwortliche stellen sich vor ihn, auch, als sich schon zeitlich und räumlich weit voneinander getrennte Opfer gemeldet hatten, was zumindest eine koordinierte Schmutzkampagne oder Racheakte sehr unwahrscheinlich machen. Dann Rücktritt des Täters bei Unschuldsbeteuerung. Dann Medienveröffentlichungen mit immer neuen Opfern. Als der Nachfolger endlich mit diesen Opfern spricht, tritt er und kurz darauf der gesamte Ältestenkreis zurück. Leider ist alles verjährt, der Staat hätte sicher schneller Klarheit geschaffen.
Keiner kann sich der Sache mehr entziehen
Den Missbrauch durch Geistliche kann man sich noch weniger vorstellen als durch andere Personen, erst recht, wenn sie freundlich und beliebt sind. Gerade zum Missbrauch gehört aber die Kunst des Verstellens! Papst Franziskus hat das bitter am eigenen Leib erfahren, als er sich 2015 vor seinen Freund Bischof Juan Barros Madrid aus Chile stellte. 2.300 Seiten Ermittlungsakten des vom Papst ernannten Ermittlers, des maltesischen Erzbischofs Charles Scicluna, belehrten ihn eines Besseren, er entschuldigte sich bei der Weltöffentlichkeit, alle chilenischen Bischöfe baten ihren gemeinsamen Rücktritt an. Hier hat der Papst erlebt, dass das Decken der Täter durch einflussreiche Freunde oft nicht aus ethischer Laxheit oder Korruption erfolgt, sondern aus Naivität, Nicht-Glauben-Können oder gar Freundschaft.
Das wird ergänzt dadurch, dass der Papst engste ranghohe Mitarbeiter, die ihm im Anti-Korruptionskampf unterstützten, durch Missbrauchsanklagen verloren hat, darunter auch solche, die ihn vermeintlich in dieser Sache an der Spitze unterstützten. Hatten schon die Korruptionsermittlungen den Papst einsam gemacht, gilt dies jetzt um so mehr.
Unheilige Handlungen
Manche dachten nun, damit habe Papst Franziskus sein moralisches Kapital in der Sache verspielt und es zeige sich, wie lax er selbst die Sache betreibe. Weit gefehlt. Der Weltgipfel in dieser Sache beweist, wie ernst er die Sache nimmt. Öffentlicher kann man die Sache in der Katholischen Kirche kaum machen, jede nationale Bischofskonferenz ist in Rom vertreten, keine kann sich der Sache mehr entziehen, auch die nicht, die formell noch nicht betroffen sind. Alle Mitglieder des Kardinalsrates samt des Kardinalstaatssekretärs, der kurz davorsteht, eine neue Verfassung des Vatikan zu veröffentlichen, nehmen persönlich am Gipfel teil. Alle Referate sind per Livestream weltweit zugänglich.
Dass die Kirche förmlich mit immer neuen Berichten überschüttet und erschüttert wird, ist eine Folge dessen, was Papst Benedikt sich vortastend, aber dennoch mutig, losgetreten und was Papst Franziskus nun zu einem Wirbelsturm gemacht hat – auch, indem er jeder Bitte eines Staates um Auslieferung von Mitarbeitern des Vatikans stattgegeben hat. Der alte Gedanke, für die Kirche sei es immer besser, keiner erfahre von ihren unheiligen Handlungen, ist unter Franziskus in das Gegenteil verkehrt worden. Noch nie zuvor wurden so viele ranghohe katholische Geistliche vom Papst aus dem Priesterstand in den Laienstand zurückversetzt, so Mitte Februar 2019 der Erzbischof von Washington Theodore Edgar McCarrick.
Oder anders gesagt: Man unterschätze nicht, dass der Papst bereit ist, in diesen Fragen bis zum Äußersten zu gehen, anders als bei der Familiensynode mit ihrem Kompromiss in Sachen Zulassung zur Messe für Wiederverheiratete, die zuvor kirchlich getraut und dann geschieden wurden.
Nonnen sollen evangelisieren, nicht den Haushalt von Klerikern führen
Nicht genug, der Papst lässt kurz vor dem Gipfel eine neue Richtlinie für Priester veröffentlichen, die Väter geworden sind, und macht damit etwas öffentlich und amtlich, was jahrhundertelang Teil des interkonfessionellen Gespötts und Leugnens war.
Und auf dem Rückflug von Abu Dhabi macht er ein ganz neues Fass auf, dass das globale Problem der Katholischen Kirche rund um Machtmissbrauch und Sexualität potenziert, in dem er den Journalisten von vielfachem Missbrauch von Nonnen durch Priester und Bischöfe berichtet. Das ist schließlich zugleich eine Aufforderung an Opfer weltweit, sich zu melden, und unterstützt erstmals die Oberen von Frauenorden, die schon lange versuchen, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
Das Ausnutzen der Nonnen unter anderem als Hauswirtschafterinnen ist ein Thema, das Franziskus schon als Erzbischof lautstark beim Wickel hatte. Seines Erachtens sind Nonnen berufen, zu evangelisieren und Armen zu helfen, nicht aber Klerikern den Haushalt zu führen oder als Chauffeure zu fungieren. Das Aufbringen eines Themas, das nur Insider derzeit ansprechen, zeigt, dass der Papst nicht gewillt ist, die Sache in irgendeiner Form zu beenden und Ruhe einkehren zu lassen; sondern dass er jede Form von Machtmissbrauch in der Kirche weltweit thematisieren will, obwohl es die Sprengkraft hat, die Kirche aus den Angeln zu heben. Deswegen nenne ich ihn in meinem Buch „Kaffeepausen mit dem Papst“ auch den Gorbatschow der Katholischen Kirche! Denn wie Gorbatschow weiß auch der Papst nicht, wohin seine Reformen und Kampagnen führen werden.
Doppelmoral von Hardlinern
Vor den Räumen, in denen der Missbrauchsgipfel tagt, demonstrieren konservative Gegner des Papstes, unterstützt von Kardinälen wie Walter Brandmüller und Raymond Leo Burke, weil sie meinen, es würde totgeschwiegen, dass es sich vor allem um sexuellen Missbrauch von Jungen und damit um Homosexualität handele. Mit dem Hinweis auf missbrauchte Nonnen macht der Papst deutlich, dass es nicht nur darum geht. Sexueller Missbrauch ist eben nicht eine kranke Form von Sexualität, sondern eine besonders erniedrigende Form von Gewalt.
Übrigens ist es interessant, wie viele der konservativen Kritiker des Papstes in Sachen sexueller Missbrauch bremsen, wo sie es doch ethisch gesehen fast noch schlimmer finden müssten. Wenn eine Wiederheirat vom Sakrament der Ehe ausschließt, wieviel mehr muss dann ein Missbrauch Minderjähriger vom (katholischen) Sakrament des Priestertums ausschließen. Weit gefehlt, man sieht das Ganze als Angriff auf das Priesteramt. Es wird zudem einfach ignoriert, dass es offensichtlich auch, wenn nicht gerade, konservative Hardliner sind, deren Doppelmoral durch konkrete Anklagen und Verurteilungen aufgedeckt wird. Ein Irrtum, wer meint, eine noch so gute Theologie würde vor Sünde schützen. Typisch dafür ist, dass Brandmüller und Burke für den grassierenden sexuellen Missbrauch durch Priester vor allem den „Materialismus“ und die abnehmende Frömmigkeit verantwortlich machen und nicht begreifen, dass hier ein Jahrhunderte altes Problem aufgegriffen wird und es Machtmissbrauch mit sexueller Komponente schon lange vor Karl Marx und der Aufklärung gab.
Ein Musterbeispiel ist der australische Kurienkardinal Georg Pell. In der zweiten Familiensynode war er der lautstarke Wortführer der konservativen Gegner des Papstes, wie ich selbst live erlebt habe. Der Papst ließ ihn großzügig gewähren, es sollte eine echte Debatte, eine echte Synode sein. Zudem war Pell „Leiter des Wirtschaftssekretariats“ und damit auch zuständig für eine neue, korruptionsfreie Verwaltung des Vatikans, bis Oktober 2018 war er Mitglied des damals neunköpfigen Kardinalrats. Mittlerweile ist er von einem australischen Gericht wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in den Neunzigerjahren verurteilt. Das Urteil schließt ein, dass es nicht bekannt gemacht wird, weil ein weiterer schwerwiegender Fall noch verhandelt wird und die Jury nicht beeinflusst werden soll. Übrigens ist die Verurteilung nur möglich, weil Australien erfreulicherweise keine Verjährung solchen Missbrauchs kennt.
Evangelische Sicht
Was habe ich nun aber als evangelischer Theologe dem Missbrauchsgipfel mit auf den Weg zu geben? Nichts, was beenden kann, dass Menschen Missbrauch üben wollen, nichts, was so klingt, als könnte das „uns“ nicht passieren, aber viel, was den potenziellen Tätern die Umsetzung erschweren kann und was die Aufklärung leichter ermöglicht.
Fünf wichtige Themen der Reformation sollte die Katholische Kirche und alle evangelischen Kirchen, die einige dieser theologischen Positionen mittlerweile recht locker sehen, erneut bedenken sollten:
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1. Die Erbsünde heißt auf Lateinisch „corruptio“, sie ist immer auch Machtmissbrauch des Menschen, im Kleinen wie im Großen. Deswegen muss es immer Machtbeschränkungen, gegenseitige Kontrolle und Berufungsmöglichkeiten geben. Christen haben die Demokratie miterfunden, weil sie überzeugt davon sind, dass mit der Macht immer die Korruptionsanfälligkeit kommt, nicht nur manchmal und erstaunlicherweise. Deswegen muss man eine korrupte Regierung unblutig abwählen können. Schon Paulus war mit den Spendengeldern, die er nach Jerusalem brachte, nie allein unterwegs, Vertreter der Gemeinden reisten mit ihm.
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2. Auch der Christ bleibt Sünder und lebt von der Vergebung und Gnade (Luthers berühmtes „simul iustus et peccator“, zugleich Gerechter und Sünder). Es gibt keinen Automatismus, dass ein ‚heiliger‘ Chef oder eine ‚heilige‘ Chefin automatisch besser regiert und korruptionsfrei ist, gleich ob in Kirche, Staat, Wirtschaft oder Familie. Um es einmal aus der Sicht meiner eigenen konfessionellen Zugehörigkeit plump zu sagen: Auch ein bekehrter, evangelikaler US-Präsident kann einen unsinnigen Krieg befehlen.
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3. Der Priester ist nicht der Vermittler zu Jesus Christus und spricht nicht an dessen Stelle. Behauptet man das aber – gleich, wie man das theologisch ausformuliert –, gibt es dem Priester in den Augen von ihm Abhängiger enorme Autorität. Dass das Priesteramt lebenslänglich ist und eigentlich nicht rückgängig gemacht werden kann, kommt hinzu. Einen nichtkatholischen Pastor, der des Missbrauchs überführt wird, entlässt man eben einfach.
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4. Der Zwang zum Zölibat ist falsch, das enge Zusammenleben von Zölibatären bringt eigene Probleme mit sich. Als der Mönch Martin Luther die Nonne Katharina von Bora heiratete, galt das den Katholiken als Ende der Welt. Merkwürdigerweise war das Heiraten von Priestern in den katholischen Ostkirchen immer möglich, weswegen die Zahl der Missbrauchsfälle dort allem Anschein nach niedriger ist. Diese 23 Kirchen haben nämlich bis heute ihr eigenes Kirchenrecht. Die Studie der Deutschen Bischofskonferenz stellt fest, dass die Missbrauchsrate mit verheirateten permanenten Diakonen als Tätern niedriger ist als bei Priestern, was sicher auch an deren geringerer Autorität, aber eben auch an dem fehlenden Quasizwang zum Zölibat liegt. Es geht hier nicht darum, dass zölibatär lebende Menschen an sich schlechter sind als andere, sondern dass die, die das nur tun, weil sie müssen, in einer schwierigeren Situation sind und Lebensgemeinschaften hier ihre eigenen Dynamiken entwickeln. Deswegen fordert der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer zu Recht, das „Männerbündische“ in der Kirche aufzubrechen.
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5. Kirche und Staat gehören getrennt und damit gehören auch Ermittlungen zum sexuellen und anderen Missbrauch in die Hand staatlicher Strafverfolgungsbehörden, nicht in die Hand kirchlicher Gremien. Viel zu lange hat die Katholische Kirche in diesen Fragen die Rolle des Staates übernommen, nur so konnten Bischöfe und Kardinäle Ermittlungen behindern. Gibt es in einem Unternehmen sexuellen Missbrauch durch Führungspersonal, lässt man ja auch nicht den Vorstand des Unternehmens ermitteln: erstens wegen möglicher Abhängigkeiten und zweitens, weil der eventuell mehr daran interessiert ist, den guten Ruf des Unternehmens zu schützen.
All das ist auch Teil unserer Gespräche mit der Glaubenskongregation des Vatikan, wo man sich bewusst ist, dass viele der nun aufgeworfenen Fragen auch Lehrfragen unmittelbar betreffen und sie herausfordern.
Noch einmal, das soll kein Fall von evangelischer Hybris sein. Evangelisch ist nicht, wer pharisäisch sagt: „Herr, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie andere“, sondern wer mit dem Zöllner sagt: „Herr, sei mir Sünder gnädig.“ (Lk 18,10-14).
Thomas Schirrmacher ist als Stellvertretender Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz auch für deren ökumenischen Kontakte auf Weltebene zuständig. Er gilt als Freund von Papst Franziskus und nahm zuletzt an dessen Reise nach Abu Dhabi teil. Das Thema Missbrauch erörterte er mehrfach mit der zuständigen Glaubenskongregation im Vatikan.