Noch liegt der Tag vor mir wie eine nicht gelesene Zeitung. Um fünf Uhr aufstehen, ohne dass der Wecker mich dazu zwingt, das ist Freiheit. Da ich erst um sieben die ersten Tabletten nehme, bin ich um diese Zeit unsicher auf wankenden Beinen unterwegs, hinfällig im direkten Sinn des Wortes. Ich gehe quasi Harfe spielend an den Stäben des Treppengeländers runter.
Bevor die Sorgen das Kommando übernehmen, flüchte ich mich in die Gegenwart Gottes. Gibt es einen besseren Start in den Tag als mit einem Choral von Johann Sebastian Bach? Heute höre ich „Fürchte dich nicht“, BWV 228. Ich tauche tief ein in die Quelle der Kraft dieser himmlischen Musik. Der Text weist alle Sorgen zurück, die sich meiner bemächtigen wollen. Heilige Räume des Schweigens vor Gott: klagen, warten, seufzen und hoffen. Den Tag ausbreiten vor Gott. Das Gebet in der Frühe gibt dem Tag eine Konstante im emotionalen Auf und Ab, einen Anker in der Zeit, wo so vieles auf uns einströmt.
Doch dann katapultiert mich ein Blick in das Smartphone in die Wirklichkeit. Eine liebe Freundin, die seit meiner Parkinson-Diagnose vor 10 Jahren täglich treu für mich betet, schreibt mir eine WhatsApp. Nun steht sie selbst am Abgrund des Lebens. Nach Jahren des mühsamen Kampfes gegen den Krebs wurden gestern Metastasen im ganzen Körper diagnostiziert. Sie fleht um ein Wunder. Alles spricht dagegen, aussichtslos, medizinisch alles ausgereizt. Sie ist noch so jung. Ich bin kein guter Beter, kann nur staunen, wenn Menschen berichten, dass sie täglich für mich beten. Aber alles fleht in mir für dieses kostbare Menschenkind, diese tapfere Mutter und liebevolle Ehefrau. „Gott, schenke ihr Leben oder verkürze das Leiden und hol’ sie nach Hause.“
Ich zweifle, ob mein kümmerliches Gestammel bei Gott ankommt. Ich spreche ihr Verse von Paul Gerhardt auf den Anrufbeantworter. Meine Worte sind kraftlos. Ich bin ein Zweifler. HERR, hilf meinem Unglauben! HERR, lehre mich beten.
„Die Angst vor morgen ist eine zutiefst heidnische Lebenseinstellung. Ein Christ lebt im Heute.“ Sören Kierkegaard, Philosoph und Prediger, selbst angefochten und lebensmüde, fordert mich auf, die Sorge für morgen hinter mir zu lassen. Ich lebe im Heute.
Ich lese Sprüche 12,18: „Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert, aber die Zunge der Weisen bringt Heilung.“ Wo viele Worte gemacht werden, da ist der Weg zwischen Heilig und Scheinheilig furchtbar kurz. Wenn es aus uns herausfährt, unbedacht, emotionsgesteuert, dann gibt es Verletzte. Wenn unsere Sprechwerkzeuge geheiligt und gereinigt werden, dann schaffen sie Heilung. Heilung für die in Angst Verstummten. Heilung für Leib, Seele und Geist. Heilung für den verkrebsten Leib. Heilung für die Verbitterten. Heilung für meine Kritiker, für die Heiligen und die Scheinheiligen.
So gehe ich in den Tag. Gelassen, geborgen, geschützt. Ich lebe im Heute.