Man muss Jens Spahn und vor allem seine politische Linie nicht mögen. Der CDU-Politiker hat lange Zeit seiner Karriere darauf verwendet, sich an der Grenze zum Unsagbaren zu bewegen, hat Muslime, Linke und Hartz IV-Empfänger abgewatscht, selten an Kanzlerinnenkritik gespart und sich zum letzten echten Konservativen in den ersten Reihen der Union hochstilisiert. Soweit das politische Geschäft. Erlaubt ist in der Regel, was Quote bringt und am Ende hat es Spahn, der nebenbei auch noch überaus fleißig sein soll, einen Ministerposten eingebracht.
Doch es brachte ihm darüber hinaus eine Menge Feinde. Solche, die T-Shirts tragen, auf denen steht: „Lebe so, dass Jens Spahn etwas dagegen hätte“. Solche, die in den obersten Sphären der Politik und der Redaktionsstuben sitzen. Und solche, die gerne im Netz Stimmung machen. So ist zu erklären, was sich derzeit rund um den Gesundheitsminister in sozialen Netzwerken abspielt. Es entbehrt jeglicher journalistischen Ethik, jeglichem guten Geschmack und jeglicher Fairness.
Mit Absicht falsch verstanden
Was war geschehen? In einem Interview der Augsburger Allgemeinen sagte Spahn zum derzeit heiß diskutierten Thema Pflege und Fachkräftemangel: „Obwohl wir mit über 120.000 Auszubildenden in der Pflege eine neue Rekordzahl erreicht haben, finden sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Personal. Außerdem haben viele Beschäftigte in Heimen und ambulanten Diensten ihre Stundenzahl reduziert, sodass wir auch ein Auge auf die Arbeitsbedingungen werfen müssen. Wenn von einer Million Pflegekräften 100.000 nur drei, vier Stunden mehr pro Woche arbeiten würden, wäre schon viel gewonnen.“
Daran gibt es kaum etwas falsch zu verstehen. Der Gesundheitsminister will die Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal verbessert sehen, und zwar mit dem Ziel, dass selbige wieder dazu bereit sind, Vollzeit zu arbeiten. Das passt im Übrigen auch zu seinem bisherigen politischen Vorgehen in Sachen Pflege. Mit einem Aktionsplan kündigte der Minister bereits vor einigen Monaten an, neue Stellen schaffen und mehr Geld zur Verfügung stellen zu wollen. Zwar kritisierten politische Gegner die Maßnahmen als zu klein gedacht. Insgesamt aber blieb zumindest der Eindruck, dass Spahn den Pflegekräften in Deutschland nicht gerade an den Kragen will.
Am Donnerstag aber waren Facebook und Co. geflutet mit Memes und Kommentaren, die Spahn für einen kleinen Teil seiner Aussage – völlig aus dem Zusammenhang gerissen und Sinn verfälschend – zur Rechenschaft zogen. Zitiert wurde plötzlich nur noch der Satz: „Wenn von einer Million Pflegekräften 100.000 nur drei, vier Stunden mehr pro Woche arbeiten würden, wäre schon viel gewonnen.“ Die Satiresendung Heute-Show des ZDF schickte ein Foto des Ministers mit dem verkürzten Zitat ins Rennen, dazu den Satz „Wenn Jens Spahn nur drei bis vier Stunden pro Woche weniger nachdenken würde, blieben uns viele beschissene Ideen erspart“.
Das Portal Bento, das sich durchaus als journalistische Plattform versteht, ließ sich dazu hinreißen, neben einem unvorteilhaften Bild des Politikers zu titeln: „Jens Spahn will, dass Pflegerinnen und Pfleger mehr arbeiten – so reagieren sie“. Und das, obwohl sogar im Text selbst erklärt wird, was Spahn im ganzen Zusammenhang sagte. Hier ist also nicht einmal Affekt oder Unwissenheit zu unterstellen. Manche Medienmacher in Deutschland sind sich offenbar für keine Effekthascherei zu schade – und da kommt ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz eines ohnehin umstrittenen Politikers gerade recht. Auch die Deutsche Presse-Agentur (dpa) oder Spiegel Online verbreiteten die Nachricht um Spahn mit dem fragwürdigen Dreh. Dpa korrigierte immerhin später. Die Wirkung blieb nicht aus, seit Donnerstag tobt ein Shitstorm, der sogar Spahn selbst dazu gebracht hat, seine Aussage mehrmals klarzustellen. Ohne großen Erfolg, versteht sich.
Dieser Tage wird zu Recht viel über Politikverdrossenheit diskutiert. Viele Journalisten kommentierten die Geschehnisse um Verfassungsschutz, Chemnitz, Maaßen, Merkel, Nahles und Seehofer vernichtend, und das zu Recht. Doch wie können Journalisten der Politik vorwerfen, sie fördere Politikverdruss, und es selbst für ihre Branche kein bisschen besser machen? Ein Teil des Landes schreit (meist zu Unrecht) „Lügenpresse“ und Medienmacher verbreiten eine Überschrift, die die Wahrheit verfälscht. Der 20. September war ein Tag, der all jenen Recht gab, die den Medien vorwerfen, sie bögen die Wahrheit immer in ihre Richtung. Das untergräbt nicht nur die Profession an sich, es behindert den demokratischen Prozess, zu dem die Meinungsbildung via Medien gehört. Das können weder Spahn-Fans noch Spahn-Kritiker wollen.
Von: Anna Lutz