Abstehende Ohren, eine lange, krumme Nase, dicke Lippen – so stellte der Karikaturist Dieter Hanitzsch den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu dar. In der Hand hält dieser Netanjahu eine Rakete mit Davidsstern. Ansonsten sieht er aus wie die Sängerin Netta Barzilai, die am Wochenende den Eurovision Song Contest gewonnen und für die nächste Runde nach Israel geholt hat. Entsprechend wiederholt der Regierungschef in der Karikatur ihre spontane Reaktion auf den Sieg: „Nächstes Jahr in Jerusalem“; im Hintergrund ist der Schriftzug der Veranstaltung zu sehen, der Buchstabe „v“ durch einen Davidsstern ersetzt.
Veröffentlicht hat diese Zeichnung am Dienstag die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) – die sich offenbar nicht scheut, eindeutig antisemitische, judenfeindliche Stereotype zu verbreiten. Beim Presserat sind mehrere Beschwerden deswegen eingegangen, in den Sozialen Medien gab es Proteste. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach gegenüber der Bild-Zeitung von einer „geschmacklosen Zeichnung“. Auch in der SZ-Redaktion wurde die Karikatur nach Angaben des Chefredakteurs Wolfgang Krach kontrovers diskutiert. Auf der Webseite der Zeitung ist sie nicht mehr zu sehen; Krach hat sich mittlerweile dafür entschuldigt.
Nicht so der Zeichner selbst. Gegenüber der „Jüdischen Allgemeinen“ sagte er, die Kritik treffe ihn nicht, er wolle die Politik Netanjahus auch als Deutscher kritisieren dürfen. Das darf er. Aber er tut es nicht. Er verbindet das klischeehafte Aussehen der Juden, ihre Spiritualität („Nächstes Jahr in Jerusalem“) und die angeblich kriegslüsterne Politik Israels. Mit anderen Worten: Juden können gar nicht anders, als kriegslüstern zu sein, es liegt in ihrem Blut, in ihrer Kultur, sie waren es also schon immer, und heute tun sie es eben mit ihrer Politik.
Öffentliche Debatte offenbar wirkungslos
Dass den verantwortlichen Redakteuren der SZ das alles nicht aufgefallen ist, ist kaum vorstellbar. Immerhin hat der Chefredakteur einen Fehler eingestanden. Aber ein solcher Fehler darf einem so einflussreichen, meinungsbildenden Blatt mit dem Anspruch, Qualitätsjournalismus zu liefern, nicht passieren. Es zeigt jedoch, dass antisemitische Bilder und Vorstellungen weit in der Gesellschaft, unter Intellektuellen, in der bürgerlichen Mitte – getarnt als „Israel-Kritik“ – verbreitet sind. Dafür braucht es keine Skandal-Rapper und Skandal-Preisverleihungen wie die des „Echo“ vor wenigen Wochen. Umso frappierender ist es, dass die massive öffentliche Debatte über selbige anscheinend nicht dazu geführt hat, sensibler und empfindlicher zu werden für offen antisemitische Äußerungen.
Gerade der Zeitpunkt, an dem die Karikatur erschien, sollte zu denken geben. Die Israelis feiern das 70-jährige Jubiläum ihres Staates, die Palästinenser gedenken desselben Ereignisses als der „Nakba“, der „Katastrophe“. Die USA haben ihre Botschaft nach Jerusalem verlegt, an der Grenze zum Gazastreifen gibt es die gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit Langem, zwischen Iran und Israel gibt es offene Feindseligkeiten. In dieser komplexen und eskalierenden Situation brauchen gerade Journalisten die Fähigkeit, genau hinzuschauen, sachlich und analytisch zu beobachten – und zu kritisieren. In diesem Kontext antisemitische Bilder zu verbreiten ist das genaue Gegenteil davon. Es trägt nur dazu bei, Israel- und Judenfeindschaft zu rechtfertigen und salonfähig zu machen.
Hinweis: Wie am Donnerstag bekannt wurde, hat die „Süddeutsche Zeitung“ bereits am Mittwoch die Zusammenarbeit mit Dieter Hanitzsch beendet. Das berichtet die „taz“. „Grund hierfür sind unüberbrückbare Differenzen zwischen Herrn Hanitzsch und der Chefredaktion darüber, was antisemitische Klischees in einer Karikatur sind“, sagte SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach.
Von: Jonathan Steinert