Die Wählerinnen und Wähler haben mit ihrem Votum in gleich mehrfacher Hinsicht für eine Zäsur gesorgt. Deutschland wird sich spürbar verändern. Mit dem Einzug der AfD in gut zweistelliger Prozenthöhe in den Bundestag rückt unser Land politisch nach rechts. Zugleich hat die bislang mitregierende SPD bereits am Wahlabend eine klare Konsequenz aus ihrem historisch schlechtesten Wahlergebnis gezogen: Die Sozialdemokraten stehen in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr für eine große Koalition zur Verfügung – sie wollen die Führung der Opposition übernehmen. Den Unionsparteien, die in der Summe die größten Verluste hinnehmen mussten, bleibt nun nichts anderes übrig, als eine sogenannte Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen anzustreben: auf Bundesebene wäre ein solches schwarz-gelb-grünes Regierungsbündnis eine Premiere (die Parteifarben von Union, FDP und Grünen finden sich in der jamaikanischen Flagge).
Eines ist schon jetzt klar: Der Debattenton im Bundestag wird deutlich rauer und schriller werden. Auch die Stimmenvielfalt nimmt zu. Denn erstmals seit 1953, als die Fünfprozenthürde bundesweit eingeführt wurde, werden sechs Fraktionen im Parlament sitzen. Auf dem politischen Berlin-Spielfeld wird sich mit dieser Wahl in der Tat deutlich mehr ändern als nach den Wahlgängen der vergangenen Jahre. So wird es nicht nur durch die neuen Fraktionen von AfD (mit rund 90 Abgeordneten) und FDP viele neue Gesichter geben. Insbesondere wird es auch spürbare Neuerungen beim bisherigen Spitzenpersonal geben: Wird ein Polit-Alphatier wie Sigmar Gabriel eine Rolle als einfacher SPD-Abgeordneter übernehmen? Oder will Volker Kauder auch bei einem grünen Koalitionspartner noch die parlamentarische Führungsrolle für die Union übernehmen? An etlichen Positionen wird es Änderungen geben.
Auch der Prozess der Regierungsbildung könnte sich länger hinziehen – nicht nur, weil die Positionen von Konservativen, Liberalen und Grünen nicht leicht auf einen Nenner zu bringen sind. Auch die auf den 15. Oktober angesetzte Niedersachsen-Wahl wird dazu beitragen, dass sich in den kommenden drei Wochen wahrscheinlich noch nicht viel bewegen wird. Ohnehin gilt Jamaika aus Sicht vieler Politikbeobachter von vornherein als Wackelbündnis mit begrenzten Überlebenschancen. Schon jetzt ist deutlich, dass dies für konservative bayerische CSU-Politiker und libertäre Grüne alles andere als ein Wunschbündnis sein kann – vor allem aus Sicht der jeweiligen Parteibasis. Nicht zuletzt zeichnet sich mit dem Beginn ihrer vierten Amtszeit das nahende Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel ab.
Der entscheidende Punkt in der neuen Wahlperiode wird aber zunächst ein anderer sein: Wie werden sich die etablierten Parteien auf der großen politischen Bühne in der Auseinandersetzung mit der rechtspopulistischen AfD positionieren? Aus deren Reihen sind immer wieder auch rassistische, antisemitische oder antidemokratische Äußerungen zu hören. Hier muss es auch aus christlicher Perspektive klare Kante geben. Zugleich müssen die Strategen in den Parteizentralen von CSU bis Linke endlich erkennen, dass viele Menschen genau deshalb AfD gewählt haben, weil sie das Gefühl haben, dass die etablierten Parteien wichtige Fragen, Ängste und Probleme ausblenden, übergehen oder bagatellisieren: Ob es um Flüchtlingskrise, Umgang mit islamistischem Terror, Familienpolitik oder sexualethische Fragen geht – Millionen Menschen haben sich in den vergangenen Jahren von den bisherigen Bundestagsparteien nicht ernstgenommen gefühlt. Auch einige prominente Medienmacher haben den Schuss noch nicht gehört: ARD-Talkerin Anne Will ließ am Wahlabend fast eine halbe Stunde vergehen, bevor der eigentliche Wahlsieger auch mal was sagen durfte – Alexander Gauland von der AfD.
Vor allem im Osten Deutschlands hat sich die politische Landschaft massiv und fast flächendeckend verändert: in Sachsen ist die AfD bezogen auf die Bundestagswahl nun stärkste Kraft. Fast überall sonst erreichten die Rechtspopulisten im Osten Platz zwei.
Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 mag viele Menschen, auch Christen, beunruhigen. Denn die lange Phase großer politischer Stabilität in Deutschland dürfte sich dem Ende neigen. Dennoch sind nicht nur negative Entwicklungen zu beobachten oder zu erwarten: Erstmals seit Jahren ist die Wahlbeteiligung deutlich gestiegen. Und die Tatsache, dass sich im Hohen Haus künftig Christ- und Sozialdemokraten wieder hitziger attackieren oder dass fünf Fraktionen womöglich mit der sechsten einen Dauer-Zoff austragen, muss nicht nur schädlich sein. Bei etlichen Debattenthemen dürfte es wahrhaftiger und mutiger zugehen als in den vergangenen Jahren. Unsere politische Kultur ist in ganz neuer Weise herausgefordert. Aber dieser politische Wandel ist auch eine Chance. Für unsere Demokratie. Und ein Auftrag: für alle, denen unsere Demokratie am Herzen liegt. (pro)
Von: iri