Es wäre doch die Chance schlechthin gewesen, findet Thomas Gottschalk. Die perfekte Gelegenheit, auf die eigene politische Verantwortung hinzuweisen, auf Führungsqualitäten, darauf, dass ansonsten der Sozialstaat den Bach runtergehen würde. Überzeugend hätte das gewirkt, an Emotion hätte das Duell gewonnen, die Menschen wären näher dran gewesen. Und weder Martin Schulz (SPD) noch Angela Merkel (CDU) haben diese Chance genutzt – wie schade!
Die Szene, die das Fernseh-Urgestein meinte, spielte sich im ersten Teil der Sendung ab: Da fragte Sandra Maischberger die Diskutanten, ob sie heute, am Sonntag, denn auch in der Kirche gewesen seien.
Die Pfarrerstochter Merkel schien ertappt: Heute sei sie nicht in der Kirche gewesen – man meinte fast, ein „ausgerechnet“ vor dem „Heute“ gehört zu haben. Schulz setzte zunächst auch an, einen Kirchenbesuch zu dementieren, bis ihm dann doch noch etwas einfiel: Er war in der Kapelle an dem Ort, in dem der verstorbene Journalist Frank Schirrmacher beerdigt sei.
Merkel fiel dann doch noch ein: „Gestern war ich in einer Kirche, weil da mein Vater Todestag hatte. Da habe ich in der kleinen Kirche, die er sehr auch gemocht hat, an ihn gedacht.“
Viele Twitter-User hatten eher weniger für die Frage nach dem Kirchgang übrig
Es hätte sich ein spannender, ein emotionaler Dialog entwickeln können. Die Kanzlerin hätte darlegen können, wie wichtig ihr Glaube ist. Dass sie aber nicht mit der Bibel in der Hand Gesetze macht. Dass sie in Zwiesprache mit Gott lebt, aber nicht dafür betet, dass sie sich politisch durchsetzt. So sympathisch-evangelisch, wie sie es schon oft getan hat. Sie hätte darauf eingehen können, welche wichtige Rolle die Kirchen in unserem Land spielen. Sie hätte ihnen danken können für den enormen Einsatz ehrenamtlicher Christen, ohne die die Flüchtlingskrise nie und nimmer hätte gestemmt werden können.
Martin Schulz, der zwar kein gläubiger Christ ist, aber dennoch Sympathien für den Glauben hat, hätte ebenfalls ausholen können: Wie er nach Gott sucht. Wie er manchmal glaubt, ihn in der Musik gefunden zu haben. Wie wichtig es ihm ist, gerade in turbulenten Wahlkampfzeiten einmal innezuhalten und sein Leben von einer etwas breiteren Perspektive aus zu reflektieren. Dass die Kirchen verlässliche Partner sind, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Und dass es neben humanistischen die christlichen Werte waren, die zu Freiheit und Demokratie geführt haben. Dass überzeugte Christen die europäische Einigung vorangetrieben, um dauerhaften Frieden zu sichern – ein Feld, in dem er sich als europäischer Parlamentspräsident hohes Ansehen erarbeitet hat.
Flüchtlingsdiskussion weitgehend ohne Empathie
Es wäre nicht mehr nur um Positionen gerungen worden, immer mit dem Ziel, beim anderen einen Fehler zu suchen (Schulz bei Merkel) oder hohe Übereinstimmung zum Zweck der argumentativen Entwaffnung zu finden (Merkel bei Schulz). Stattdessen hätten die Kontrahenten dem deutschen Fernsehvolke vor Augen führen können, dass Politik im besten Fall von inneren Überzeugungen getragen wird und dem Wohle des Menschen dienen sollte.
Gerade diese Rückbindung hätte auch der 43-minütigen Diskussion über Flüchtlinge gut getan, bei der es fast ausschließlich darum zu gehen schien, wie Flüchtlingszahlen reduziert und abgelehnte Asylbewerber möglichst zügig wieder nach Hause geschickt werden können – Positionen wohlgemerkt, die ihre Berechtigung haben, die aber auf der anderen Seite auch Empathie für die verlangen, die Hilfe brauchen und verdient haben.
Doch diese so einfache Frage nach dem Kirchgang hatten die gewieften Debattentrainer von Merkel und Schulz wohl nicht auf dem Plan. Wahrscheinlich ist es auch etwas zu viel verlangt, in einer so schweißtreibenden Situation wie dem TV-Duell über letzte Begründungen nachzudenken.
Doch zumindest Schulz ließ ein wenig von dem Bangen und Hoffen erkennen, das er vor diesem Aufeinandertreffen empfand: „Wahrscheinlich haben wir im stillen Kämmerlein beide gebetet“, sagte er und lachte. (pro)
von: nf