45 Tage nach der Bundestagswahl haben sich CDU, CSU und SPD auf einen Koalitionsvertrag verständigt. Am Mittwoch stellten die drei Parteien die 144 Seiten umfassende Absichtserklärung im Paul-Löbe-Haus des Bundestags in Berlin vor. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag trägt den Titel „Verantwortung für Deutschland“.
Abtreibung
Im Koalitionsvertrag haben die drei Parteien darauf verständigt, ungewollt Schwangere in ihrer „sensiblen Lage“ umfassend zu unterstützen, um das ungeborene Leben „bestmöglich zu schützen“. Zeitgleich soll Frauen in Konfliktsituationen der Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglicht werden. Die Kostenübernahme durch die Kassen soll ausgeweitet werden. Zudem soll die medizinische Weiterbildung mit Blick auf Schwangerschaftsabbrüche ausgeweitet werden. Damit rückte die SPD von einer von der Ampel-Regierung eingesetzten Kommission ab, die eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Woche empfohlen hatte. Die Legalisierung hatte die Arbeitsgemeinschaft der SPD-Frauen noch im März zu einer Bedingung für die Koalition gemacht. Die 2021 beschlossene Streichung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche findet sich im Koalitionsvertrag nicht wieder.
Suizid
Laut Koalitionsvertrag soll das Suizidpräventionsgesetz umgesetzt werden. Dadurch soll die Zahl der Suizide und Suizidversuche in Deutschland nachhaltig reduziert werden. Hierfür sollen bestehende Hilfsstrukturen ausgebaut und Maßnahmen in den Bereichen Information, Aufklärung, Forschung und Unterstützung verstärkt werden. Der Entwurf befindet sich aktuell im parlamentarischen Verfahren. Der Deutsche Bundestag hatte im Juli 2023 mit 692 Ja-Stimmen bei einer Nein-Stimme und vier Enthaltungen beschlossen, dass die Bundesregierung bis Juni 2024 ein solches Gesetz vorlegen solle.
Eine Neuregelung der Sterbehilfe, wie durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2020 vorgegeben, kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. In der vorherigen Legislatur haben mehrere fraktionsübergreifende Vorschläge keine entsprechenden Mehrheiten gefunden.
Cannabis
Zu Cannabis heißt es: „Im Herbst 2025 führen wir eine ergebnisoffene Evaluierung des Gesetzes zur Legalisierung von Cannabis durch.“ Die CDU hatte im Wahlkampf gefordert, die Legalisierung wieder rückgängig zu machen.
Selbstbestimmungsgesetz
Auch das von der Ampel-Regierung verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz soll zunächst – anders als von der Union im Wahlkampf gefordert – nicht angefasst werden. Wie beim Thema Cannabis hat sich Schwarz-Rot auf eine Evaluierung vereinbart. Das soll bis spätestens 31. Juli 2026 geschehen. Bei der Evaluierung soll vor allem der Fokus auf die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die Fristsetzungen zum Wechsel des Geschlechtseintrags sowie den wirksamen Schutz von Frauen gelegt werden.
Religionen
Laut Union und SPD leisten die Kirchen und Religionsgemeinschaften einen „unverzichtbaren Beitrag“ für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Gemeinwohl. Über eine Ablösung der Staatsleistung an die Kirchen schweigt sich der Koalitionsvertrag aus. Diese wird im Grundgesetz gefordert. Zudem wolle man den interreligiösen Dialog fördern und die Religions- und Weltanschauungsfreiheit schützen.
Beauftragter für Antisemitismus und Religionsfreiheit
Die Koalitionspartner wollen die Hälfte der Stellen der Bundesbeauftragten streichen. Das geht mit dem Versuch einer Verschlankung des Staatsapparats einher. Nicht betroffen sein wird der Religions- und Weltanschauungsfreiheitsbeauftragter der Bundesregierung, denn der „Schutz religiöser und weltanschaulicher Minderheiten sowie insbesondere der Schutz der weltweit größten verfolgten Gruppe, der Christen, ist von besonderer Bedeutung.“ Bereits im Vorfeld hatten Vertreter christlicher Organisationen vor der Abschaffung dieses Beauftragten gewarnt.
Ob davon auch der Beauftragte für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus betroffen sein wird, findet sich nicht im Koalitionsvertrag. Allerdings wird mehrfach der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland betont.
Prostitution
Mit Blick auf Prostitution in Deutschland soll eine Expertenkommission eingesetzt werden. „Bei Bedarf“ wolle man das Prostituiertenschutzgesetz nachbessern. Die Union hatte in ihrem Wahlprogramm das sogenannte Nordische Modell, also ein Sexkaufverbot gefordert. In diesem Modell ist Prostitution verboten – allerdings wird dabei nicht die Prostituierte, sondern der Freier bestraft.
Israel
Die drei Parteien bekräftigen das Existenzrecht Israels und betonen, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson ist. Der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 wird verurteilt. Zudem fordert man eine „grundlegende“ Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen und setzt weiterhin auf eine Zwei-Staaten-Lösung. Die finanzielle Unterstützung des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA soll von „umfassenden Reformen“ abhängig gemacht werden.
Migration
Die Migrationspolitik wird strenger. So will die Koalition freiwillige Aufnahmeprogramme beenden und den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre aussetzen. Das betrifft Eingereiste, die in ihrem Heimatland Gefahren ausgesetzt, aber nicht persönlich verfolgt werden. Wie im Wahlkampf von der Union angekündigt, soll es Zurückweisungen an den Außengrenzen auch bei Asylgesuchen geben. Grenzkontrollen werden fortgesetzt und die Grenzschutzorganisation „Frontex“ zu diesem Zweck gestärkt.
Die Liste der sicheren Herkunftsstaaten, in die also abgeschoben werden darf, wird erweitert, zunächst durch die Staaten Algerien, Indien, Marokko und Tunesien. Ausweisungen sollen künftig einfacher gehen: Bei schweren Straftaten soll die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe die Abschiebung zur Folge haben. Dies gelte insbesondere bei Straftaten gegen Leib und Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei Volksverhetzung, bei antisemitisch motivierten Straftaten sowie bei Widerstand und einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte. Asylverfahren sollen „deutlich“ schneller vonstattengehen.
Noch im Wahlkampf forderte die CDU eine Aberkennung doppelter Staatsbürgerschaften zur Erleichterung der Ausweisung und die Installation von Zentren zur Rückführung in Drittstaaten außerhalb der EU. Beides ist nicht Bestandteil des Koalitionsvertrages.
Entwicklungszusammenarbeit
Die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums (BMZ) ist vom Tisch. Stattdessen soll die Zusammenarbeit zwischen Außenministerium, BMZ und Verteidigungsministerium verbessert werden. Weiter heißt es: „Das bürgerschaftliche Engagement in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel durch Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und politische Stiftungen wollen wir weiter fördern.“
Mitten in den Koalitionsverhandlungen war die Forderung der Union nach außen gedrungen, das Entwicklungshilfeministerium abzuschaffen und im Auswärtigen Amt zu integrieren. Dies hatte für Protest vonseiten der Kirchen, aber auch der Entwicklungshilfeorganisationen gesorgt.
Abgeschafft wird das Lieferkettengesetz. Es regelte seit 2023, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe Verantwortung für die Herkunft ihrer Waren übernehmen. Etwa, dass Umwelt und Menschenrechte bei der Produktion geschützt werden. Kirchen und NGOs hatten sich seiner Zeit dafür starkgemacht. Nun soll es durch ein „Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung“ ersetzt werden, das die Europäische Lieferkettenrichtlinie „bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt“. Diese Richtlinie regelt ebenfalls die Sorgfaltspflicht von Unternehmen.
Nach den Verhandlungen müssen nun die drei Parteien dem Koalitionsvertrag zustimmen. Die SPD will dazu eine Mitgliederbefragung durchführen. Die CDU will auf einem kleinen Parteitag im April über die Koalitionsvereinbarung entscheiden. Bei der CSU reicht ein positiver Beschluss des Parteivorstands. Friedrich Merz soll dann am 7. Mai vom Deutschen Bundestag zum neuen Bundeskanzler gewählt werden.
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Von: Martin Schlorke/Anna Lutz