Wie fand ich den Kirchentag? Es war mein erster, und ich erlaube mir einen ganz subjektiven, überhaupt nicht gerechten Versuch einer Antwort auf diese Frage. Ein Kommentar von Jörn Schumacher
Von Jörn Schumacher
Foto: pro/Schumacher
Die heißesten Tage im Juni seit Aufzeichnung der Wetterdaten… Auf dem Kirchentag herrschte trotzdem Begeisterung
Es ist erstaunlich: Ich bin quasi mit dem Kirchentag groß geworden. Meine Eltern sind die treuesten Kirchentagsfans, die man sich vorstellen kann. Sie haben sich 1961 in Berlin sogar auf einem kennen gelernt. Seitdem haben sie fast keinen verpasst, und meine Kindheit ist geprägt von den Kirchentags-„Hits“, die wir auf der Urlaubsautofahrt rauf und runter auf Kassette gehört und mitgesungen haben. Unvergesslich ist bis heute der Glanz im Gesicht meiner Eltern, wenn sie nach vier Tagen Abwesenheit vom Kirchentag wiederkamen. Das war der Glanz, den Moses verstrahlt haben musste, als er vom Berg Sinai kam, wo Gott höchstpersönlich zu ihm gesprochen hatte. Und doch war ich selbst bisher noch nie Teilnehmer eines Kirchentags.
Nun bin ich also selbst dort, allerdings in der Funktion eines berichtenden Journalisten. Deswegen ist mein Urteil vielleicht nicht ganz fair. Ich habe in keiner Massenunterkunft die Nacht verbracht, ich habe meine Veranstaltungen nicht nach persönlichem Interesse ausgesucht, sondern im Dienste des Lesers. Dennoch erlaube ich mir eine Rückschau, ganz subjektiv, ganz unfair.
Was hat das mit Kirche zu tun?
Auf der Hinfahrt fragte mich ein Kollege: Wie sieht eigentlich der durchschnittliche Kirchentagsbesucher aus? Ich wusste es nicht, verwies jedoch auf die Studie, nach der er wohl hauptsächlich grün wählt und friedensbewegt ist. Aber wie sieht er aus? Jetzt, nach drei Tagen mittendrin, erlaube ich mir ein Bild zu zeichnen: Er ist eine Frau jenseits der 40, die Haare noch nicht ganz grau, die Kleidung unkompliziert.
Aber aus welchen Motiven fährt der durchschnittliche Besucher zum Kirchentag? Aus politischen oder aus spirituellen? Früher, als meine Eltern glänzend aus irgendeiner deutschen Großstadt zurückkamen, zählte für sie zwar auch das Politische, aber vor allem das Spirituelle. Heute, sagen sie, gehen sie fast gar nicht mehr zum Kirchentag, das Spirituelle fehlt ihnen mittlerweile. Der Kirche ist irgendwie der Geist abhanden gekommen. Das stelle auch ich fest, der ich immer noch bei ihr Mitglied bin, weil ich sie noch immer irgendwie mag.
Ein bekannter Prediger kündigte einmal eine Veranstaltung, in der es vor allem um Lobpreis und Anbetung ging, und die zeitgleich zum Kirchentag stattfand, so an: „Wenn die auf dem Kirchentag sind, sind wir bei Gott.“ Ist Gott nicht auf dem Kirchentag?
Gegenwind für Gott
Ich denke, Gott ist auf dem Kirchentag, so wie er überall sonst auch gleichzeitig ist. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er auf einem Podium, in einer Diskussionsrunde oder bei einem „Bibliodrama“ einen Platz bekäme. Eventuell ließen ihn die Ordner als Zuschauer in die Halle, vorausgesetzt, er hat keine Glasflasche und seinen Kirchentagsausweis dabei. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Gott in einer Diskussionsrunde ziemlichen Gegenwind erfahren würde. Er ist immerhin der Schöpfer des Alls, kein Politiker, und kein Theologe und ich vermute, eine Diskussion käme mit Gott ohnehin kaum zustande.
Professionell und herzlich
In einer Umfrage, die wir mit der Videokamera auf der Straße gemacht haben, stellte ein Teilnehmer eine Frage, die mich seitdem nicht los lässt. „Was hat das hier alles eigentlich mit Kirche zu tun? Wenn ich politische Botschaften hören möchte, kann ich auch woanders hingehen.“ Nun ja, ich bin eben auf dem Kirchentag, nicht auf dem Gottestag.
Es wird Zeit, meine positiven Punkte zu nennen auf die Frage, wie ich den Kirchentag fand. Denn davon gibt es eine Menge. Fangen wir beim Offensichtlichen an. Dass eine ganze Stadt für mehrere Tage komplett in Beschlag genommen wird und keinen Kollaps erleidet, dass 2.500 Veranstaltungen ohne nennenswerte Reibungen gemanagt werden, teilweise mit hochdekorierten, internationalen Rednern, dass Tausende Helfer in feschen Pfadfinder-Uniformen überall zur rechten Zeit am rechten Ort sind und freundlich und kompetent Hilfe jeder erdenklichen Art leisten, Wasser trotz schwüler 34 Grad im Schatten zu den Menschen kommt, ist beeindruckend. So beeindruckend, dass man zeitweise vergisst, dass man bei Kirchens ist. Die Atmosphäre ist herzlich, der Stress zernagt nirgends, jedenfalls nicht sichtbar, die Freundlichkeit, die Teilnehmermassen auf den Straßen sind eben nicht vergleichbar mit einem Festival-Publikum, kein Alkohol macht die Leute asozial, man fühlt sich wirklich ein bisschen wie in einer Familie. Denn immerhin sind wir doch alle Christen, oder?
Eine solche professionell auftretende Kirche, mit so vielen interessanten Rednern, ist und bleibt gesellschaftsrelevant. Ich glaube in der Tat, dass hier einige, wenn auch kleine, Weichen gestellt werden. Einzelne Zuhörer werden hier und da vielleicht in ihrer Denke umgelenkt, Fachleute können wichtige Punkte ihrer Arbeit an den normalen Bürger von der Straße bringen, wie vielleicht nirgendwo sonst. Wann kommen so viele Spitzenleute aus Politik und Wissenschaft an einem Ort zusammen? Gut – das angeblich so demokratische System der „Anwälte des Publikums“, bei dem das Publikum Fragen auf Zetteln in die Diskussion einbringen kann, ist etwa so effektiv wie die Klimaanlagen in Porsche-Arena und Hans-Martin Schleyer-Halle. Aber immerhin fühlt sich der Zuhörer ernst genommen.
Aber der Kirchentag ist eben auch ein Ort, wo „Ehemalige“ noch einmal eine Hörerschaft bekommen. Fast vergessene Politiker, emeritierte Wissenschaftler, pensionierte Pastoren und ehemalige Funktionäre, die nun mit Reden ihre Rente aufbessern.
Bei einer Veranstaltung mit einer ehemaligen Spitzenpolitikerin bekam der Zuhörer eine stattliche Anzahl von Kalendersprüchen geboten, die munteren Aufforderungen zum persönlichen und gesellschaftlichen Engagement, Bibel-, Quer- und Dichterverweise wollten kein Ende nehmen.
Wollte man Bullshit-Bingo auf dem Kirchentag spielen, es empfählen sich folgende Wörter: Hoffnung, Bildung, Zukunft, Handeln, Gesellschaft, Individuum. Vor allem aber: der Mensch. In all dieser heißen Luft, im heißen Stuttgart, stand er immer wieder im Mittelpunkt. Der Mensch, der aktiv wird, der Mensch, der sich einsetzt, der Mensch, der Kirche ist, und der Mensch, der klug ist. Ich glaube, Gott würde sich auf dem Kirchentag oft einfach fehl am Platze fühlen. (pro)
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