Pressekonferenzen in Corona-Zeiten zu besuchen, heißt oftmals, sich nur via Livestream in die Veranstaltung einzuklinken. Großes mediales Interesse, geschlossene Räume und Hygienerichtlinien passen eben nicht wirklich gut zusammen. Es war also abzusehen, dass die Pressekonferenz zu Thilo Sarrazins neuestem Buch: „Der Staat an seinen Grenzen“ viele Journalisten an den eigenen Schreibtisch binden würde, um von dort zu berichten. Vor wenigen Wochen war Thilo Sarrazin wegen seiner umstrittenen Thesen zur Einwanderung und über den Islam wohl endgültig aus der SPD geworfen worden. Seinem publizistischen Erfolg scheint der Streit keinen Abbruch zu tun. Der Verlagsleiter von Langen Müller, Michael Fleissner, erklärte passenderweise, dass der Verlag mit Sarrazin mehr Geld verdient hätte als mit dem verstobenen Bundeskanzler Willy Brandt, im Gegensatz zu Sarrazin einer Galionsfigur der Sozialdemokratie.
Nach einigen einleitenden Worten von Michael Fleissner trat der Journalist Henryk M. Broder ans Rednerpult, um Sarrazin anzukündigen. In seinem kurzen Vortrag teilte er der reduzierten Hauptstadtpresse seine Befürchtung mit, dass der Umgang mit der Corona-Krise totalitäre Züge annehme. Bevor er den Migranten vorwarf, Deutschland zu verachten, rutschte ihm noch ein absichtlicher Versprecher heraus, als er über „die Kaiserin Merkel“ sprach. Außerdem sagte er in Richtung der anwesenden Journalisten, das Buch werde sich verkaufen, egal was sie schrieben. Umso eher sollten sie Sarrazins Werk doch bitte ganz unvoreingenommen lesen, so, als wäre nicht Sarrazin der Autor. Nachdem Broder seinen ihm eigenen Polit-Humor zum Besten gegeben hatte, übernahm Sarrazin.
Der frühere SPD-Politiker stellte zu Beginn seiner Ausführungen seine Intention vor, das Buch zu schreiben. Sarrazin wollte in Erfahrung bringen, wie man Einwanderung in Deutschland und Europa steuern könne. Die Lösung auf diese Frage würde die Geschichte geben. Der Blick in die Vergangenheit habe ihm gezeigt, dass Einwanderung in den meisten Fällen zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung gewesen sei. Diese habe oftmals zu einem niedrigeren Lebensstandard, zu einer geringeren Lebenserwartung bis hin zum Völkermord geführt. Darum hätten sich „insbesondere erfolgreiche Gesellschaften, Kulturen und Staaten“ gegen unerwünschte Einwanderung gewehrt oder mindestens den Zustrom reguliert. Beispiele dafür seien China oder das Römische Reich. Sarrazin distanzierte sich von der These, Einwanderung sei für die aufnehmende Gesellschaft bereichernd. Vielmehr nutze sie ausschließlich den Einwanderern selbst. Ausnahmen stellten nur die Hugenotten und im Mittelalter Juden aus Osteuropa dar.
Damit widersprach Sarrazin der Behauptung, dass geburtenschwache Länder wie Deutschland auf Migration angewiesen seien: „Auch bei niedrigen Geburtenraten und schrumpfender Bevölkerung bleibt die Alterssicherung finanzierbar, wenn Produktivität und Erwerbsbeteiligung der Menschen im Erwerbsalter hoch sind.“ Einwanderer würden die Staatsfinanzen und die Sozialsysteme zusätzlich belasten.
Kirchen sollen sich raushalten
Sarrazin fordert daher eine restriktive Einwanderungspolitik Deutschlands und Europas. Um die Migration zu steuern, sei eine „Herrschaft über die Grenze“ das zentrale Element. Das Schengen-Abkommen habe dahingehend versagt.
Migration nach Europa seien größtenteils wohlstandsgetrieben, sagte der ehemalige SPD-Politiker. Dabei löse das keine Probleme vor Ort. So müssten in den entsprechenden Ländern funktionierende Institutionen und soziale Strukturen geschaffen werden. Dann könne jedes Land Wohlstand haben.
Die aktuelle Rolle der Kirchen beim Thema Migration kritisierte Sarrazin. Statt sich in staatliche Aufgaben einzumischen, sollten sie lieber ihre eigenen wahrnehmen. Das bedeute „Freiheit der Glaubensausübung für ihre Gläubigen und auch für alle übrigen Religionen zu sichern“. Sarrazin zitierte Lukas 20,25: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Die ursprüngliche Tradition der christlichen Kirche sei die Trennung staatlicher und kirchlicher Einflusssphären. So sollten Kirche und Staat in einer säkularen Zeit zusammenleben.
Im Buch wirft Sarrazin dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, Gesinnungsethik vor. Seine Perspektive ziele nicht auf die Folgen seiner Vorschläge zur Seenotrettung ab. „Die Empörung, die er wie viele andere artikulierte, weiß keinen inhaltlichen Rat.“
Wo sind die kritischen Fragen?
Ein für solche Pressetermine typischer Abschluss in Form von Nachfragen verkam dagegen zur Farce. Moderiert vom Verlagsleiter gab es so gut wie keine kritischen Nachfragen, die Fragesteller gerieten zu Stichwortgebern – und das bei einem Thema, das geradezu prädestiniert ist, kontrovers diskutiert zu werden. Besonders auffällig war, dass viele Fragen von Medienvertretern gestellt wurden, die dem konservativen bis rechten Spektrum zuzuordnen sind. Dabei ging es weniger um eine kritische Auseinandersetzung mit Sarrazins Thesen als um Fragen nach dessen Wohlbefinden und seinen Umgang mit Kritikern.
Den traurigen Höhepunkt der Fragerunde markierte eine online eingegangene Frage, die vom Verlagsleiter ausgewählt wurde. Dort fragte ein Zuschauer, woher Sarrazin die Kraft zum Schreiben nehme. Journalistisch eher eine weniger wertvolle Frage.
Unklar blieb, ob die Kollegen überhaupt die Möglichkeit hatten, vorab Sarrazins Buch zu lesen, wie es sonst üblich ist. Ein Journalist der Nachrichtenagentur „Reuters“ sagte, dass er extra früher zur Pressekonferenz gekommen sei, um noch einen Blick ins neue Buch werfen zu können. Das Christliche Medienmagazin pro erhielt erst im Anschluss an die Buchvorstellung ein Rezensionsexemplar.
Ob die Hauptstadtpresse nun einfach abwesend, unvorbereitet oder desinteressiert war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Ein Blick in die aktuelle Berichterstattung großer Medien legt außerdem die Vermutung nah, dass dem Buch kaum Beachtung geschenkt wird – obwohl das Buch bereits am ersten Tag auf Platz 2 der Amazon Bestseller-Liste steht. In der Rangliste wird „Der Staat an seinen Grenzen“ nur noch von einem Plastikumschlag für Lehrbücher übertroffen. Die Zeiten, in denen Sarrazins Thesen tagelang die Kommentarspalten der Leitmedien füllen, sind wohl genauso vorbei wie seine Mitgliedschaft in der SPD.