Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) veranstaltet am 22. Oktober gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti) einen Gottesdienst unter dem Motto „Reformation für Alle*“ in der Mainzer Christuskirche. Der Gottesdienst soll nach Worten der Veranstalter Menschen unterschiedlichster geschlechtlicher Ausprägung zusammenbringen.
pro hat beim Leiter des Stabsbereichs Öffentlichkeitsarbeit der EKHN, dem Oberkirchenrat Stephan Krebs, nachgefragt, wie viele Mitglieder der Kirche das Thema Transsexulität/Transidentität in ihrem Selbstverständnis berührt. Transsexuelle Menschen hegen den Wunsch, als Angehörige des anderen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden. Transidentität beschreibt die Gegebenheit, dass die Geschlechtsmerkmale eines Menschen von der bestimmenden Geschlechtsidentität abweichen.
pro: Herr Krebs, was wissen wir über transsexuelle und transidente Menschen in der Kirche?
Stephan Krebs: Wenig. Sie waren bislang weithin unterhalb der Wahrnehmung. Auch wir in den Kirchen schauen bislang fast ausschließlich auf die „Normalen“, was ja von „Norm“ kommt. Merkwürdig, hören wir doch so gerne die Geschichten von Jesus, der auch den Einzelnen nachgeht, den Nicht-Normalen. Jesus erzählt von Gott als dem Hirten, der schon mal 100 Schafe sich selbst überlässt, damit er das eine verlorene wieder findet. Meist wird dieses Gleichnis moralisch verstanden. Das verlorene Schaf muss auf den rechten Pfad der Tugend zurückgebracht werden.
Sie sagen „meist“. Wie kann man es noch verstehen?
Ich denke, es ist auch seelsorglich gemeint. Das eine Schaf, das anders ist als andere, braucht auch Zuwendung, Schutz, Hilfe, Achtung – vielleicht sogar besonders viel, weil es sein Leben außerhalb des Schutzes der Normalität finden muss. Unsere Kirche, die EKHN, beginnt gerade das zu lernen, denn einige junge Leute, die sich in der Jugendarbeit unserer Kirche sehr engagieren, haben das Thema aufgebracht. In den langen Debatten unserer Kirche über ein angemessenes Verständnis von Homosexualität haben sie gemerkt, dass in der EKHN eine große Bereitschaft gewachsen ist, Menschen, die anders sind als die überkommene Norm, ernst- und wahrzunehmen. Das hat sie ermutigt, ihre besondere Lebensthematik aufzudecken.
Über wie viele Menschen reden wir schlussendlich?
Wie viele davon direkt betroffen sind, wissen wir nicht, denn bislang lassen auch unsere Statistiken und Formulare Transidentität und Transsexualität außen vor. Wer recherchiert, lernt: Niemand weiß es genau, es könnte um 0,0015 Prozent bis 0,26 Prozent der Bevölkerung gehen. Hinzu kommen Mitbetroffene: Angehörige und Freunde, auch Kirchengemeinden, wenn sie sensibel für ihre Mitglieder sind. Aber ehrlich gesagt: Wie viele betroffen sind, ist aus meiner Sicht nicht so wichtig. Aus evangelischer Perspektive muss uns am Herzen liegen, dass möglichst alle Menschen ihr Leben angemessen entfalten können und nicht verkrümmt werden durch Vorstellungen, die sie gar nicht erfüllen können.
Warum erregt das Thema die Gemüter?
Die Polarität von Mann und Frau scheint für viele Menschen ihre innersten Werte zu berühren, also die eigene Identität. Wer diese – aus ihrer Sicht – elementare Klarheit aufweicht, löst bei ihnen Ängste, Aggressionen und Abwehr aus. Ihre unverrückbare Ordnungsidee lautet: Es gibt zwei Geschlechter, denen alle eindeutig zugeordnet sind. Wer in diese Ordnung nicht passt, ist moralisch falsch – sündig. Doch hier wird eine Frage natürlicher Prägung zu einer moralischen Frage gemacht. Nach allem, was wir wissen, können sich die Betroffenen nicht entscheiden, wie sie sind. Sie sind, wie sie sind. Und das ist keine Sünde, sondern eine Variante der Natur, der Schöpfung und damit auch eine Variante von Gottes Schöpferwillen. Sünde kann – wie bei allen anderen auch – daraus allenfalls werden, wenn sie mit ihrer Prägung nicht verantwortungsvoll umgehen.
Ich verstehe schon, dass viele an ihrer archaischen Ordnungsvorstellung hängen. Was ich nicht verstehe, insbesondere bei Christen, ist, dass sie das so sehr ins Zentrum ihres Denkens und Glaubens stellen, dass sie jegliche seelsorgliche Perspektive für die Betroffenen ausblenden.
Warum ist das Thema im Reformationsjahr wichtig?
Die Frage nach den Lebensmöglichkeiten von transidenten Menschen in der Kirche und in der Gesellschaft stellt sich auch unabhängig von dem Jubiläumsjahr. Aber dieses Jahr ist dafür ein geeigneter Anknüpfungspunkt. Denn die Reformation ist kein abgeschlossenes historisches Ereignis, sondern der Beginn eines Prozesses. Das Jubiläumsjahr stellt nicht nur die Frage „Wo kommen wir her?“, sondern auch „Wohin entwickelt sich das Projekt Reformation?“. Deshalb ist es ein guter Anlass, die anstehenden Themen mit gesellschaftlich-geistlicher Relevanz zu benennen und anzugehen. Dazu zähle ich die Frage nach angemessenen Lebensmöglichkeiten von transidenten Menschen. Zumal es ein Anliegen der Reformation ist, dass jeder einzelne Mensch seinen Weg zu und mit Gott findet.
Vielen Dank für das Gespräch!
Von Norbert Schäfer