Kirche am „Kipppunkt“

Kirchenbindung und Religiosität schwinden in Deutschland schneller als erwartet. Das zeigt die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung,
Von Norbert Schäfer
Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD

Auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Ulm ist am Dienstag die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) vorgestellt worden. Die zeigt, dass Kirchenbindung und Religiosität im Land deutlich zurückgehen – und schneller, als erwartet. Die KMU von 1972 hatte eine hohe Stabilität der Kirchenmitgliedschaft ermittelt, die sich lange Zeit bestätigt habe. Die Datenlage der aktuellen KMU führe zu einem anderen Schluss. „Die Kirche scheint jetzt an einem Kipppunkt angelangt zu sein, der schon in den nächsten Jahren in erhebliche Instabilitäten und disruptive Abbrüche hineinführen kann“, lautet es in der Studie.

Der Studie zufolge waren zum Zeitpunkt der Erhebung 23 Prozent der Befragten evangelisch, 25 Prozent katholisch, 43 Prozent konfessionslos. Neun Prozent der Befragten gaben an, zu einer anderen Religionsgemeinschaft zu gehören. Insgesamt zeigt die KMU, dass Religiosität und Kirchenbindung gesellschaftlich zurückgehen, die Kirche als Ort der Religiosität aber wichtig bleibt. Ausschlaggebend für die Religiosität eines Menschen und seinen Verbleib in der Kirche ist laut der Studie die religiöse Sozialisation in der Kinder- und Jugendzeit. 

Konfessionslose bald „absolute Mehrheit“

Nach Angaben der KMU hatte die Summe aller christlichen Konfessionen (evangelische, katholische, orthodoxe und freikirchliche Christen) Ende 2022 noch einen Anteil von 52 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Setzt sich der beobachtete Trend weiter fort, könnte der Anteil bereits im Jahr 2024 unter die 50-Prozent-Marke fallen. „Die Gruppe der Konfessionslosen wächst um circa 1 bis 1,5 Prozent pro Jahr. Nächstes Jahr werden, wenn man alle christlichen Gruppen zählt, diese tatsächlich in der Minderheit sein“, erklärte Christopher Jacobi vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD bei der Vorstellung der Studie vor der Synode, und weiter: „Und wenn man das fortschreibt im Zeitraffer und eine Prognose abgibt, dann werden ab Ende der 20er Jahre die Konfessionslosen eine numerisch absolute Mehrheit darstellen.“

Die KMU zeigt, dass seit der ersten Untersuchung der Kirchenmitgliedschaft im Jahr 1972 erhebliche Veränderungen der konfessionellen Zusammensetzung in Deutschland eingetreten sind. Damals waren noch 90 Prozent der Bevölkerung Mitglied in einer Kirche. Vor fünfzig Jahren waren in Westdeutschland mit 46 Prozent noch doppelt soviel der Befragten Mitglied in einer der EKD-Gliedkirchen, 44 Prozent gehörten damals der katholischen Kirche an. Lediglich jeder Zwanzigste (5 Prozent) gab vor fünf Jahrzehnten an, konfessionslos zu sein, ebenso viele waren zu dem Zeitpunkt einer anderen Religionsgemeinschaft zugehörig.

Bindungskraftverlust: Freikirchen „nicht immun“

Bis zur Wiedervereinigung hatten sich laut der KMU die Zahlen bereits deutlch verändert. 1990 gaben nur noch 37 Prozent (minus neun Prozentpunkte) der Befragten an, evangelisch zu sein, 36 Prozent (minus acht Prozentpunkte) waren da noch in der katholischen Kirche, die Konfessionslosen machten 22 Prozent aus und fünf Prozent gaben an, zu einer anderen Religionsgemeinschaft zu gehören.

Ein Vergleich der ursprünglichen und der aktuellen Religionszugehörigkeit zeigt, dass von ehemals 100 Evangelischen heute noch 59 Angehörige dieser Konfession sind. Bei den Katholiken sind es noch 68 Prozent ihrer Konfession treu geblieben. „Wichtig ist hierbei aber wahrscheinlich, dass sehr oft angenommen wird, dass die Freikirchen immun sind von den Trends in der Gesellschaft. Aber tatsächlich bewegt sich das auf sehr ähnlichen Niveau wie bei den beiden großen Konfessionen“, erklärte Jacobi. Von ehedem 100 Freikirchlern sind aktuell noch 73 geblieben.

Die Bestandserhaltung bei Konfessionslosen ist dagegen extrem stark. 92 Prozent der ursprünglich Konfessionslosen blieben das weiterhin. „Einmal konfessionslos, wahrscheinlich für immer konfessionslos“, sagte Jacobi. Wer heute in Deutschland religiös ist, ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit im Kontext von Kirche. Insgesamt hat die KMU kaum „religious switching“ festgestellt, also Wanderung von einer Konfession zu einer anderen. Als möglichen Grund für den Schwund führte Jacobi gesellschaftliche Trends wie Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung an. Die sinkende Bindungskraft der Kirchen ist einerseits einer allgemein nachlassenden Vertrauensbereitschaft gegenüber Institutionen aller Art geschuldet, andererseits der abnehmenden Religiosität. Weniger Einfluss hätten Skandale in der Kirche – die wirkten allenfalls verstärkend.

Die Annahme, dass individualisierte Spiritualität als alternative Form der Religion die Kirchen ersetzt, hat die KMU nicht bestätigt. „Alternative Religiosität nimmt stärker ab als die Religiosität, die kirchlich gebunden ist. Das heißt, kirchliche Religiosität hat eine stärkere Bestandserhaltung als der Glaube an Wahrsager“, sagte Jacobi. Während Religiosität sinke, könne keine alternative Option wirklich Fuß fassen.

Gleiche Profile bei Evangelischen und Katholischen

Die KMU zeigt zudem, dass zwischen evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern kaum mehr Unterschiede zu finden sind. „Es gibt keine spezifischen konfessionellen Profile mehr unter den jeweiligen Kirchenmitgliedern, die wir in früheren Studien durchaus noch feststellen konnten“, erklärte Edgar Wunder vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD. Als Beispiel führte Wunder die Häufigkeit des Betens an. Die sei bei evangelischen als auch bei den katholischen Kirchenmitgliedern nahezu gleich. Die Daten zeigten ein „Abschleifen“ der konfessionellen Profile. „Katholische und evangelische Kirchenmitglieder unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Auffassung, was jetzt zum Christsein dazugehört.“

Die Studie legt zudem offen, dass sich die Kirchen mit großen Erwartungen an Reformen beschäftigen müssen. Bei den Katholischen sind 96 Prozent der Befragten der Auffassung, dass sich ihre Kirche grundlegend verändern muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Bei den Evangelischen sind es 80 Prozent, die grundlegende Veränderungen erwarten. Bei den Evangelischen sind 78 Prozent der Kirchenmitglieder der Auffassung, dass die Veränderungen ihrer Kirche in den letzten Jahren bereits in die richtige Richtung ging. Bei den Katholischen vertritt weniger als die Hälfte (49 Prozent) der Kirchenmitglieder diese Auffassung. Die Veränderungen gingen den Kirchenmitgliedern noch nicht weit genug.

Einigkeit besteht unter evangelischen (87 Prozent) und katholischen Christen (93 Prozent) darüber, dass evangelische und katholische Kirchen mehr zusammenarbeiten sollten und nicht so sehr ihr eigenständiges Profil betonen sollten. Diese Ansicht wurde zudem von 90 Prozent der Konfessionslosen geteilt.

Für die repräsentative Studie der in Deutschland lebenden Bevölkerung ab 14 Jahren wurden von Oktober bis Dezember 2022 Daten von 5.282 Befragten durch das Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa erhoben. Erstmals in der Geschichte der KMU wurden bei der Untersuchung mit insgesamt 592 Fragen nicht nur Evangelische und Konfessionslose befragt, sondern auch Katholische und Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften. Ein Novum ist zudem, dass die Deutsche Bischofskonferenz bei der Untersuchung unter dem Titel „Wie hältst du’s mit der Kirche?“ mitgewirkt hat. Die KMU wird seit 1972 alle zehn Jahre durchgeführt und ist eine religionssoziologische Studie, die Einstellung zu Religion und Kirche in der Bevölkerung misst. Auf einer Webseite zur Studie werden erste Ergebnisse der Studie vorgestellt. Mitte Mai 2024 erscheint ein wissenschaftlicher Begleitband mit vertiefenden Auswertungen.

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