Wie uns geht es derzeit wohl den meisten Eltern in Deutschland: Sie fragen sich, wieviel Lockdown ihre Kinder noch aushalten. Und ob deren Wesensveränderungen mit den Coronabeschränkungen zu tun haben oder doch einfach altersbedingt zu erklären sind. Deshalb hat sich pro auf die Suche begeben nach Experten, die es besser wissen als wir Eltern. Denn nicht nur bei unseren Kindern, auch unter Praktikern aus der Sozial- und kirchlichen Arbeit ist der Ruf nach mehr Beachtung für die Kleinsten in der Coronakrise in den letzten Wochen lauter geworden. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, erklärte jüngst mit Blick auf die Kinder via Facebook: „Ängste nehmen zu, auch Depressionen.“ Und weiter: „Wenn wir darüber nachdenken, was sich in der Zeit nach der Pandemie ändern muss, dann gehört das zu den Prioritäten: Deutschland muss ein kinderfreundliches Land werden, in dem jedes Kind nicht zuerst etwas leisten muss, sondern einfach sein darf.“
Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, warnte in der Neuen Osnabrücker Zeitung, es müsse davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer von Gewalttaten gegen Kinder während des jüngsten Lockdowns ganz erheblich gestiegen sei. Die Kinder würden nicht gesehen: „Sie verschwinden buchstäblich im Dunkeln.“ Es gebe eine Gruppe von Kindern, die erheblich und nachhaltig unter den Folgen der Coronapolitik leiden werde – psychisch, aber auch was deren schulische Leistungen angehe.
Jedes dritte Kind ist auffällig
Studien geben Bedford-Strohm und Hilgers recht. Die sogenannte COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf stellt fest: „Fast jedes dritte Kind leidet ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten.“ Gereiztheit, Einschlafprobleme, Kopfschmerzen, Niedergeschlagenheit und Bauchschmerzen zählen zu den Symptomen, die bereits 2020, also vor dem zweiten Lockdown, bei Kindern zugenommen haben. Auch das Deutsche Jugendinstitut hat die Situation von Kindern während des ersten Lockdowns untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass jedes vierte Kind Einsamkeitsgefühle gehabt habe, Hyperaktivität und emotionale Probleme hätten zugenommen.
Essstörungen, Aggressionen, Depressionen
Christoph Correll, Professor für Psychiatrie und Molekularmedizin in New York und Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité, forscht ebenfalls zur Situation der Kinder in der Coronakrise. Im klinischen Alltag beobachtet er, dass seit 2020 mehr Mädchen mit Essstörungen und zudem mit stärkeren Ausprägungen der Erkrankung behandelt werden. Depressionen bei Kindern hätten zugenommen, zudem habe man in Berlin mehr Fenstersprünge junger Menschen beobachtet als in den Jahren zuvor: „Unsere Sorge ist, dass die Suizidalität ansteigt“, sagt er im Gespräch mit pro. Zudem suchten die Kinder und ihre Eltern später Hilfe als vor der Pandemie. Seine Erklärung: Die soziale Kontrolle falle im Lockdown weg. Weder Lehrer noch Ärzte hätten die Kinder im Blick – und zuhause beschäftigten die Eltern oft andere Sorgen. Die Kinder wiederum seien auf sich selbst zurückgeworfen und litten unter dem Getrenntsein von Freunden. Bei jüngeren Kindern beobachtet er Angststörungen und Panikattacken. Manche Kinder wollten sich nicht mehr unter Menschen begeben oder gar in die Kita gehen, litten unter Trennungsängsten, Depressionen oder Aggressionen.
Eltern rät Correll, auf Warnsignale zu achten. Bei ganz jungen Kindern sei es auffällig, wenn sich Schlafrhythmus oder -dauer deutlich ändere, der Appetit ausbleibe oder der Nachwuchs plötzlich übermäßig viel esse. „Viel Weinen oder extreme Anhänglichkeit – auch das sind Zeichen für ‚Mir geht es nicht gut‘“, ebenso wie Lethargie, Antriebslosigkeit, suizidale Gedanken oder selbstverletzendes Verhalten. Correll ist sich aber auch sicher: „Es gibt keine ‚Generation Covid‘. Kinder können sich insgesamt gut auf neue Situationen einstellen.“ Hauptsächlich jene mit Vorbelastungen seien gefährdet, in Krankheiten abzurutschen. Damit meint er einerseits, dass junge Menschen schon zuvor unter psychischen Auffälligkeiten gelitten haben. Oder aber, dass sie aus instabilen Verhältnissen kommen, die psychische Probleme noch befördern. „Eltern müssen ihren Kindern im Lockdown Sicherheit bieten sowie Normalität und Struktur schaffen, wo das möglich ist.“
„Kinder, die nachts um 2 noch auf der Straße sind“
Davor, dass die Coronamaßnahmen gerade jene abhängen, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft stehen, warnt auch Bernd Siggelkow. Der Gründer des Hilfswerks „Die Arche“ in Berlin hilft Kindern aus prekären Verhältnissen mit Hausaufgabenbetreuung oder einem Mittagstisch und Freizeitangeboten. Seit Beginn der Coronapandemie hat sich die Arbeit der Arche grundlegend verändert. Anstatt in den eigenen Einrichtungen unterrichten die Mitarbeiter die Kinder jetzt zuhause – digital oder im direkten Kontakt. Auf eigene Faust hat die Organisation Familien mit Laptops und Smartphones ausgestattet, viele der Sozialarbeiter halten per Whatsapp den Kontakt zu ihren Schützlingen, es gibt einen täglichen Livestream, das Mittagessen wird geliefert. Nur einen Bruchteil der Kinder sehen die Mitarbeiter tatsächlich in den Arche-Einrichtungen. „Schadensbegrenzung“ nennt Siggelkow das, was die Arche derzeit leisten könne, mehr nicht.
„Wir sehen extrem übergewichtige Kinder, bleich im Gesicht, weil sie nur noch vor dem Computer hängen“, berichtet er. Homeschooling überfordere die Familien, die meisten seien nicht einmal mit einem Drucker ausgestattet. Ein gesundes Mittagessen über die Schulen entfalle, zuhause stehe stattdessen regelmäßig Fastfood auf dem Tisch, wenn die Arche nicht helfe. Über Whatsapp beobachte er die Statusmeldungen der Kinder und sehe, dass einige um zwei Uhr nachts auf der Straße herumliefen. Durch den fehlenden Unterricht gehe ihnen auch jegliche Struktur verloren, selbst welcher Wochentag gerade sei, wüssten sie nicht mehr. Die Eltern selbst seien nicht in der Lage, das aufzufangen, fühlten sich oft selbst überfordert: „Das Aggressionspotential in den Familien ist hoch. Auf engstem Raum kann jede Kleinigkeit zur Explosion führen.“ Siggelkow vermutet eine riesige Dunkelziffer bei der häuslichen Gewalt. Denn die Hämatome der Kinder sehe derzeit niemand.
„Diese Kinder werden alleingelassen vom System“, sagt Siggelkow. Er klingt bitter. Das Hilfesystem sei durch die Coronamaßnahmen derart eingeschränkt, dass man das Gefühl haben könne, die Menschen existierten gar nicht mehr. Und das gelte auch für die Verlautbarungen der aktuellen Politik: „Nach jeder neuen Erklärung zur Coronapolitik verbringe ich erst einmal eine halbe Stunde damit, eine Übersetzung für unsere Familien zu schreiben“, berichtet Siggelkow. „Die Politik lässt die Schwachen auf der Strecke.“
Eltern gefragt: Kindergottesdienst zuhause
Einig sind sich die Experten also über eines: Kinder, denen es vor der Coronakrise gut ging, kommen eher gut durch die schwere Zeit. Kinder, die es zuvor schwer hatten, leiden nun massiv. Das sagt auch Bettina K. Hakius. Sie ist Dozentin an der Biblisch-Theologischen Akademie am Forum Wiedenest, einer freikirchlichen Ausbildungsstätte. Sie begleitet unter anderem Jugendmitarbeiter und -referenten und hat vor ihrer Tätigkeit auch in der familiären Krisenintervention im Auftrag des Jugendamtes gearbeitet. „Die Familiensituation ist für die Kinder derzeit – im Guten wie im Schlechten – ihr Schicksal“, sagt sie. Als Beispiel nennt sie das Thema Digitalisierung. Jedes Schulkind sei nun darauf angewiesen, mit dem Internet zu arbeiten. Wichtig dabei sei aber eine adäquate Begleitung der Eltern, „ansonsten gleichen die elektronischen Medien einer Wildnis, in der man leicht verloren gehen kann“.
Hakius sieht durch die Schließung der Kindergottesdienste und christlichen Jugendeinrichtungen die Gefahr, dass Kinder sich von religiös-spirituellen Lebensthemen und Gemeinschaften entfremden. Digitale Angebote können das ihrer Meinung nach nur bedingt ausgleichen. „Gott hat uns Ganzheitlichkeit geschenkt – die geht verloren, wenn wir uns nur vor Bildschirmen sehen“, sagt Hakius. „Christsein hat etwas damit zu tun, gemeinsam unterwegs zu sein“, findet sie. Je jünger die Kinder seien, umso mehr benötigten sie tatsächliche Begegnungen: „Kinder müssen schmecken, sehen, fühlen – und wenn wir ehrlich sind, wir Erwachsene eigentlich auch.“
Deshalb seien nun die Eltern mehr denn je gefragt, ihre Kinder spirituell anzuleiten, etwa durch Hausgottesdienste, gemeinsames Abendmahl, Andachten und Rituale wie Abend- oder Morgengebete. „Eltern müssen neu lernen, ihre Kinder mit hinein zu nehmen in den Glauben“, sagt Hakius. Letztendlich könne das auch das Glaubensleben der Erwachsenen bereichern. Eltern seien mit dieser Rolle oft überfordert. Deshalb wünscht sie sich mehr Angebote, die Vätern und Müttern dabei helfen – Onlinekurse etwa.
Noch einmal schlafen, dann geht die Kita wieder los. Meine Kinder sind aufgeregt – und ich auch. Am Ende einer langen Recherche denke ich: Das Stottern wird wieder vergehen, die Aggressionen sicher auch. Im Großen und Ganzen sind wir gut davon gekommen bis hierher. Doch es gibt offenbar Kinder, die massiv unter dem Lockdown leiden. Die Politik darf sie nicht länger übersehen.
Von: Anna Lutz