In seinem Buch „Allein mit dem Handy – So schützen wir unsere Kinder“ beschreibt der Medienexperte Daniel Wolff aus der Praxis heraus detailliert die digitale Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zwischen WhatsApp, YouTube, Instagram, TikTok und Co., von der viele Eltern nur wenig oder gar keine Vorstellung haben. Der Medienexperte plädiert im PRO-Gespräch für einen restriktiveren Umgang mit Smartphones und sozialen Medien.
PRO: Herr Wolff, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin empfiehlt für Kinder unter drei Jahren keine Bildschirmnutzung – weder aktiv noch passiv –, Kinder von drei bis sechs Jahren sollen 30 Minuten in Begleitung vor digitalen Geräten verbringen dürfen, Sechs- bis Neunjährige 45 Minuten, Neun- bis Zwölfjährige 60 Minuten, Zwölf- bis 16-Jährige 120 Minuten (vor 21 Uhr) und 16- bis 18-Jährige 120 Minuten pro Tag als Orientierungswert. Wie bewerten Sie das aus der Praxis?
Daniel Wolff: Das sind Wunschwerte, die in der Praxis nur wenige Kinder und Jugendliche erreichen. Viele liegen mit ihrer Bildschirmzeit weit darüber, manche bis zu zehn Stunden täglich. Eltern nehmen das oft nicht ernst, weil es bequem ist, wenn die Kinder beschäftigt sind. Viele Eltern sind selbst zu sehr in der digitalen Welt gefangen, als dass sie ihren Kindern bei der Mediennutzung Vorbilder sein könnten.
Früher setzte man Kinder vor den Fernseher. Was ist an Smartphones und internetfähigen Geräten gefährlicher?
Smartphones sind portabel und immer verfügbar. Und die Apps sind so programmiert, dass sie möglichst süchtig machen, denn je mehr sie genutzt werden, desto mehr verdienen die Anbieter. Die Apps passen sich dabei den persönlichen Interessen der Nutzer sehr geschmeidig an. Kinder geraten schnell in einen Sog, weil sie personalisierte Inhalte sehen, die sie immer weiter fesseln. Die Eltern unterschätzen oft, wie intelligent diese Apps inzwischen sind. Viele Kinder geben in den Workshops offen zu, abhängig zu sein.
Gleichzeitig sehen sie, dass ihre Eltern ebenfalls ständig am Handy hängen, was jede Ermahnung zur Mäßigung wirkungslos macht. Wenn immer möglich, verstecken Kinder das wahre Ausmaß ihrer Handy-Nutzung vor den Eltern. Aber umgekehrt tun viele Eltern das auch vor ihren Kindern. Das schafft eine Art Doppelmoral: Wenn Kinder sehen, dass die Eltern es selbst nicht schaffen, die Geräte wegzulegen, laufen Appelle an die Kinder ins Leere.
Kinder geben auch teilweise richtige erstaunliche Summen für In-App-Käufe in Spielen aus. Sie können sich damit letztendlich die Anerkennung ihrer Mitschüler erkaufen. Vielen Eltern ist nicht bewusst, wie leicht Kinder durch solche Mechanismen manipuliert werden.
Manche Länder versuchen, durch Gesetze die Nutzung sozialer Medien für Kinder einzuschränken. Was halten Sie davon?
Ich halte die Diskussion über solche Maßnahmen für sinnvoll. Manche Medienpädagogen lehnen Verbote jeder Art reflexhaft ab, aber wir verbieten Kindern ja auch völlig zurecht, Auto zu fahren, zu rauchen oder Alkohol zu trinken. Die psychologische Manipulation durch Apps ist so ausgefeilt, dass Kinder dem nicht widerstehen können. Kein Kind hat die Selbstbeherrschung, sich beispielsweise dem ausgefeilten Empfehlungs-Algorithmus von TikTok zu entziehen. Das geht nicht. Die meisten Eltern unterschätzen das fundamental. Hier braucht es klare Grenzen. Wir haben in Deutschland ohnehin ausgesprochen wenig Diskussion zu diesem Thema im Verhältnis zu allen anderen Ländern.
Eltern sind immer noch der einzige funktionierende Jugendschutz im Internet, weil es schlicht keinen funktionierenden Jugendschutz im Internet gibt. Gar keinen. Ein Smartphone erlaubt jedem Kind den Blick auf alles. Und Kinder sind neugierig. Und wenn es ein bisschen verboten ist, ist es erst recht spannend. Zu glauben, man könnte Kindern ein Smartphone geben und ihnen dann vertrauen, ist völlig naiv. Wir geben unseren Kindern ein Suchtmittel in die Hand, bei dem 80 Prozent der Eltern selbst größte Probleme haben, es zu beherrschen.
Wie reagieren Kinder auf extreme Inhalte im Internet?
Ich fürchte leider, dass viele traumatisiert werden. Viele Kinder sehen schon in jungen Jahren verstörende Inhalte wie extreme Gewalt, schreckliche Szenen aus Kriegsgebieten oder harte Pornografie. Diese Erfahrungen können ihr Weltbild negativ prägen und langfristige seelische Schäden verursachen. Es ist nur aber leider so, dass die Kinder nicht mit den Eltern über die verstörenden Inhalte reden, weil sie fürchten, dass man ihnen das Smartphone dann abnimmt. Die Kinder bleiben daher mit ihrer Angst, ihrer Verunsicherung und Verstörung allein. Es steht eine Art digitale Schweigemauer zwischen Kindern und Eltern.
Sie sprechen im Buch gar von einer Generation mit sozialen und psychologischen Herausforderungen durch intensive Smartphone-Nutzung …
Kinder der „Generation Alpha“ (Anmerkung der Red.: geboren ab 2010), die teilweise schon im Kleinkindalter Smartphones nutzen, sind besonders gefährdet. Kinder entwickeln sich anders, wenn sie in jungen Jahren mit extremen Inhalten und digitalem Stress konfrontiert werden. Das hat negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung, denn manche verpassten Entwicklungsschritte können sie später nicht mehr nachholen. Bei manchen Kindern wirkt sich diese Art von Medien-Verwahrlosung ungeheuer zerstörerisch aus. Und wir werden leider erst dann wissenschaftlich darüber Bescheid wissen, wenn eine ganze Generation später im Leben gröbste Probleme haben wird.
Dazu kommt noch ein weiteres Problem: Kinder und Jugendliche in vielen sozialen Medien ganz gezielt und sehr subtil durch rechtsextreme Inhalte beeinflusst. Es gibt Influencer, die bewusst rechtsextreme Botschaften verharmlosen und in Unterhaltung verpacken. Diese Propaganda erreicht Kinder täglich und prägt ihre Ansichten mehr als wir bislang wahrnehmen wollen. Ich befürchte, das wird Folgen für unsere Gesellschaft haben.
Was kann man tun, damit die Kinder daheim nicht medial verwahrlosen?
Wichtig ist, dass Kinder keine Smartphones im Bett benutzen dürfen. Das gilt auch für Eltern. Eine gemeinsame Ladestation außerhalb des Schlafzimmers hilft dabei. Die Kinder sehen dann, dass auch die Eltern nicht im Bett am Smartphone hängen. Und glauben Sie mir, die Kinder kontrollieren das. Außerdem sollten Kinder möglichst spät ein eigenes Smartphone bekommen. Ich halte 14 Jahre für ein gutes Alter.
Haben Kinder, die keine Smartphones haben, Nachteile im sozialen Umfeld?
Der soziale Druck ist natürlich spätestens ab der 5. Klasse riesig. Viele Kinder behaupten dann gerne einfach, „alle anderen“ hätten ein Smartphone, um ihre Eltern zu überzeugen. Meine Empfehlung: Eltern können sich mit Gleichgesinnten organisieren, damit ihre Kinder nicht alleine ohne Smartphone dastehen. Auch ein „Buddy-System“ hilft: Wenn ein Kind einen Freund hat, der ebenfalls noch etwas länger auf ein eigenes Smartphone warten muss, fällt es schon viel leichter, den Smartphone-Gruppenzwang zu ertragen.
Wie reagieren Schulen auf diese Entwicklungen? Sie gehen ja als Medientrainer an die Schulen, um mit den Kindern und Lehrern zu diskutieren.
Lehrkräfte beobachten überall, dass die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Schüler abnimmt. Für mich kein Wunder: Viele Kinder schlafen ja kaum noch, weil sie oft nachts noch lange am Handy sind. Deshalb sind Schulen und Eltern immer häufiger bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Wie erleben Sie das Medienverhalten an christlichen Schulen?
Ich bemerke ehrlich gesagt kaum Unterschiede zu anderen Schulen. Die größte Rolle spielen soziale und wirtschaftliche Faktoren. An Schulen in „ärmeren Gegenden“ ist die Problematik oft größer, weil viele Eltern die komplexe Thematik der digitalen Medienerziehung überhaupt nicht im Blick haben.
Was könnten Schulen tun, um das Problem anzugehen?
Schulen könnten Smartphones in der Schule konsequent verbieten. Schließfächer oder andere Systeme sorgen dafür, dass die Geräte während des Unterrichts nicht ablenken. Auch die Ausstattung mit schulischen Tablets sollte so geregelt sein, dass diese nachts nicht genutzt werden können.
Welche langfristigen Maßnahmen halten Sie für nötig?
Wir brauchen eine breitere gesellschaftliche Diskussion über den Schutz von Kindern im digitalen Raum. Eltern und Schulen müssen die Problematik ernst nehmen und klare Regeln setzen. Das Bewusstsein für die Gefahren durch soziale Medien, Suchtmechanismen und digitale Manipulation muss gestärkt werden. Und vor allem eine gut gemachte Kampagne mit dem Motto „Keine Smartphones im Kinderbett!“
Vielen Dank für das Gespräch!
Daniel Wolff: „Allein mit dem Handy: So schützen wir unsere Kinder: Klassenchat, Mobbing, Pornos, Gewaltvideos – was Kinder online wirklich erleben“, Heyne Verlag, 320 Seiten, 16 Euro, ISBN: 978-3453607019