Unter der Überschrift "Jeder Religion die gleiche Chance" hatte Leutheusser-Schnarrenberger einen Gastbeitrag in der Mittwochsausgabe der FAZ veröffentlicht. Darin warnte sie vor einer "derzeit geführten und zum Kampf der Kulturen stilisierten Integrationsdebatte". Die Ministerin erinnerte an Reichstagsprotokolle, in denen katholische Gläubige als romtreue "Ultras" bezeichnet wurden, die "in Jesuitenschulen bildungsfern" unterrichtet würden. Das Déjà-vu der Argumente habe seine Ursache in einer damals wie heute geführten Integrationsdebatte. "Heute wird geargwöhnt, der Islam sei in seinem politischen Kern nicht in die demokratische Gesellschaft und damit auch nicht in den Rechtsstaat integrierbar", so die Bundesjustizministerin. Im Jahr 1871 habe die Reichstagsmehrheit befürchtet, die große Menge neuer katholischer Staatsbürger wolle sich den Gesetzen des neuen deutschen Reichs nicht beugen, sondern gehorche einem "höheren Recht".
In einer Stellungnahme in der FAZ widersprach Kauder diesem Vergleich. Es gebe in Deutschland keine Einschränkungen der Religionsfreiheit, sofern die Gesetze und die Verfassung eingehalten würden. "Eine gegenteilige Annahme, die die Bundesjustizministerin nahelegt, ist nicht gerechtfertigt. In Deutschland herrscht Toleranz gegenüber allen Religionen", sagte Kauder.
"Vergleiche zwischen damals und heute verbieten sich"
Der Bau von Gotteshäusern – gerade auch die Errichtung von Moscheen – unterliege nur den Einschränkungen des Baurechts. "Der Besuch des Gottesdienstes ist am Freitag genauso möglich wie am Sonntag. Es herrscht gerade kein Kulturkampf gegen Religionen wie zum Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Vergleiche zwischen der Situation damals und heute verbieten sich."
Die Bundesjustizministerin wies darauf hin, dass die Basis des Zusammenlebens durch keine bestimmte Konfession gebildet werde, sondern allein durch das Grundgesetz und die darin garantierten Grundrechte. Daher sollte sich der Blick mehr auf das Individuum als auf eine Gruppe richten
Diskussion über Islam ohne Sachkenntnis
Menschen muslimischen Glaubens ließen sich als fest umrissene Einheit nicht fassen. Tatsächlich befolgten Muslime, die sich als gläubig bezeichnen, rituelle Vorschriften teilweise strenger als gläubige Christen. Dann könnten staatliche Gebote und private Religiosität in Konflikte geraten, so die Ministerin. "Die Diskussion um den Islam und seine Rechtsregeln wird viel zu häufig vorurteilsbeladen, dafür aber umso unbeschwerter von Sachkenntnis geführt." Über islamisches Recht müsste man zunächst "viel mehr wissen". Erst dann dürfe es vom Standpunkt des Rechts aus kritisiert werden: "Wie Justitia müssen wir blind dafür sein, ob religiöse Bekenntnisse mit einem Gebetsteppich, einer Ordenstracht oder einem roten Segenszeichen auf der Stirn zutage treten oder im Gegenteil Bekenntnisfreiheit gelebt wird." Man dürfe hingegen nicht blind sein, "wo die Grenzen unserer Verfassung überschritten" würden.
Kauder stellt dem gegenüber, dass die Verpflichtung zur Toleranz Politik und Gesellschaft nicht von der Aufgabe entbinde, Probleme in den Blick zu nehmen, die durch die Ausübung von Religion entstehen könnten. "Es ist richtig, dass sich pauschale und von mangelnder Sachkenntnis geprägte Verdächtigungen verbieten. Aber es ist für das Zusammenleben wichtig, zum Beispiel auch über die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Auslegung des Islam zu diskutieren", so der Christdemokrat.
Außerdem dürfe man auch danach fragen, "wie die Hauptströmungen des Islam ihrerseits zur Freiheit der Religionen stehen". Dies sei umso dringender, weil mittlerweile Christen "die am stärksten verfolgte Religionsgemeinschaft der Welt" seien und besonders in islamischen Ländern "massiv unter Druck" stünden. "Jeder Politiker in Verantwortung sollte sich diesen Fragen zuwenden und nicht irreführende Fragestellungen aufwerfen", forderte Kauder. (pro)