Kretschmann rüttelt die Kirche wach, Wieler erlebt Fürbitte, Pau sieht linke Ideen in Bibel

Auf dem Katholikentag haben Vertreter des Staates biblische Impulse gegeben. Darunter RKI-Chef Lothar Wieler und die Politiker Petra Pau und Winfried Kretschmann.
Von Jonathan Steinert
Winfried Kretschmann

Auf Kirchentagen bekommen Politiker oft die Möglichkeit, einen biblischen Text auszulegen. So auch bei diesem Katholikentag in Stuttgart. Unter ihnen Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er betonte, der Gesellschaft gehe etwas Wichtiges verloren, wenn die Kirche nicht aus der Krise finde. „Als Gesellschaft darf uns die Krise der Kirche nicht gleichgültig belassen, unabhängig von unserer religiösen Verortung“, sagte er. Schließlich bedeute „katholisch sein“, Weltkirche zu sein – für die Welt da zu sein.

In kultureller wie auch in sozialer Hinsicht habe die Kirche eine große Bedeutung. Die Kultur, Musik und Kunst seien eng verwoben mit christlichen Zeugnissen, Gedanken, biblischen Bildern und Symbolen. Das ließe sich zwar auch rein kunsthistorisch verstehen. „Aber dann fehlt eine wichtie Deutung“, erklärte Kretschmann: etwa, dass ein Dom nicht nur ein Bauwerk sei, sondern architektonisch auch die Sehnsucht nach Gott ausdrücke. Oder dass das Glockenläuten zum Innehalten aufrufe und dass Sonn- und Feiertage für die „seelische Erhebung“ da seien.

„Religion bietet einen kulturellen Mehrwert auch in einer säkularen Gesellschaft. Sie kann sie davor bewahren, dass ein grundlegender Aspekt von Kultur und Humanität verloren geht – indem sie den Sinn für das Sinnhafte wach hält.“ Religiöse Bildung und Erzählungen, die die Welt transzendierten, könnten auch jene Menschen erreichen, „die mit Glaube nichts am Hut haben“.

Das Grundgesetz sei „in weiten Teilen ein Ausfluss des Menschenbildes, wie es uns die Schrift überliefert“. Das zeige sich etwa in der Menschenwürde, in den Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit, im Schutz vor Verfolgung und der Religion. Die Verfassungsordnung sei „christlich imprägniert“.

„Für den christlichen Glauben ist Beziehung maßgeblich: Der Schöpfergott liebt seine Menschen und schließt mit ihnen einen Bund. Das befähigt die Menschen ihrerseits zur Liebe zu Menschen“ und zu einem rücksichtsvollen Umgang mit der Natur. Nächstenliebe erschöpfe sich nicht bei den Gläubigen, sondern habe sich in die Welt ausgebreitet und organisiert. Das Gemeinwesen profitiere von der christlichen Zuwendung, betonte Kretschmann. „Ich wüsste keine andere Institution, deren Angebote sich über alle Lebenslagen erstreckt, alle Generationen einbezieht und die flächendeckend präsent ist.“

Mutige Zeichen und regelmäßiger Gottesdienstbesuch

Als Idealbild und Maßstab beschreibe die Apostelgeschichte die Gemeinde der ersten Christen. Dieser Text aus Apostelgeschichte 2 war Grundlage für die Bibelarbeit. Die Kirche sei die fortgesetzte Verkündigung des Reiches Gottes und bereite seine Wiederkunft vor, sagte Kretschmann. Deshalb müsse in ihr auch etwas von dem verheißenen Reich Gottes aufscheinen. Die Kirche von heute gebe jedoch ein anderes Bild ab, beklagte er.

„An den Schaltstellen der Kirche fehlt der Mut für wirkliche Reformen“, sagte der Grünen-Politiker und sah das als Grund dafür, dass sich Menschen von der Kirche entfremden oder sogar den Glauben verlieren. „Reform heißt immer, das Evangelium von Jesus Christus in die Erfordernisse und den Horizont der Zeit zu stellen, in der man lebt.“ Der christliche Glaube enthalte eine „durch und durch sinnstiftende und menschenzugewandte Botschaft“. Diese werde verstellt durch Streitfragen wie die Rolle von Frauen in kirchlichen Leitungsämtern, der Umgang mit Wiederverheirateten und Homosexuellen oder auch die Frage, ob evangelische Christen die Eucharistie erhalten dürften.

Hier brauche es mutige Zeichen durch die Kirchenleitung. Zugleich müsse die Kirche überlegen, wie sie für angehende Priester attraktiv werde. Das sei ein „Gebot der Stunde“, schließlich sei die seelische Not heute nicht geringer als bei den Menschen zur Zeit der ersten Gemeinde. Gleichzeitig sei deren Vorbild eine Anforderung an Christen, regelmäßig Gottesdienste zu besuchen, Menschen dazu einzuladen, aber auch regelmäßig Gottesdienste anzubieten – „auch solche, wo man nicht erst ins Auto steigen muss“. Für seinen Beitrag bekam Kretschmann anhaltenden Applaus, das Publikum erhob sich von seinen Plätzen.

RKI-Chef erfährt Hass und Fürbitte

Auch der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler hat zu dem Bibeltext in der Apostelgeschichte einen Impuls gegeben. Die ersten Christen hätten durch den Heiligen Geist neue Kraft und Mut bekommen, der Welt zu begegnen. In der Pandemie sei der Umgang mit dem Unbekannten eine gewaltige Herausforderung gewesen. Das sei ohne innere Stärke schwer zu bewältigen. Der wichtigste Aspekt der Arbeit seines Instituts sei es, so viele Leben wie möglich zu retten und dazu Entscheider in Politik und im Gesundheitswesen zu beraten und Empfehlungen zu geben.

Wie er in seiner aufgezeichneten Ansprache sagt, nutze er Gaben des Heiligen Geistes, um seiner Verantwortung nachzukommen: Fachwissen, Erfahrung und zunehmde Erkenntnisse durch die Forschung. Verstand, Erkenntnis, Wissenschaft und Mut hätten auch zur Entwicklung von Impfstoffen geführt. Das seien „Gaben, die uns als Menschen von Gott geschenkt wurden, um damit verantwortungsvoll umzugehen“.

Lothar Wieler, Robert-Koch-Institut Foto: RKI/Katholikentag/Screenshot PRO
Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Institut, hatte seinen Impuls auf Video aufgenommen

Er habe „unvorstellbaren Hass und Feindseligkeit erlebt gegen mich als Person und das Robert-Koch-Institut erlebt“, sagte Wieler. Aber er habe „in dieser schwierigen Zeit auch sehr viel Liebe und Unterstützung“ erfahren. Viele Menschen hätten ihn wissen lassen, „dass sie für mich gebetet haben und auch weiterhin jeden Tag für mich beten“. Diese „christliche Gemeinschaft, die mir in schwieirgen Momenten geholfen hat“, erinnere ihn an die Gemeinschaft der Christen, die die Apostelgeschichte beschreibe.

Es gebe nach wie vor viele offene Fragen über das Virus. „Mit der Weisheit, die Gott uns gegeben hat, können wir das Wissen, das wir haben, nutzen, um einander zu schützen“, sagte Wieler und schloss mit dem Wunsch: „Mögen viele am Pfingstfest erneuert und erneut mit den Gaben des Heiligen Geistes erfüllt werden.“

Pau vergleicht Bedingungsloses Grundeinkommen mit Jesus-Gleichnis

Die Linken-Politikerin Pau, religionspolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Bundestag und Vizepräsidentin des Parlaments, nutzte den Lobgesang der Hanna aus dem 1. Buch Samuel, Kapitel 2, um einige Ideen ihrer linken Politik zu skizzieren. Sie betonte laut Manuskript, die zentrale Botschaft des Textes sei: „So unterschiedlich Menschen auch sein mögen, so sind sie doch alle gleich: vor dem Recht und in ihrer Würde.“ Sie verwies anhand dessen auf den Kampf gegen „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und kritisierte den Kapitalismus. Denn der bedeute für „das Gros der Menschen … unter dem Strich Ausbeutung und Entrechtung, mal staatlich abgemildert, wie hierzulande, mal brutal wie vielfach weltweit.“

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau Foto: PRO/Anna Lutz
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau ist religionspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linken (Archivbild)

Auch warnte sie vor den negativen Folgen der Digitalisierung: dass etwa Menschen in der Arbeitswelt wegen intelligenter Maschinen nicht mehr gebraucht werden und ins Prekariat abrutschen könnten. Oder dass die Tech-Konzerne die Daten von Internetnutzern zur Überwachung missbrauchen können. Ausgehend von Hannas Loblied und dem Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg, die alle denselben Lohn bekommen unabhängig von ihrer Arbeitszeit, begründete sie ihr Eintreten für ein bedingungsloses Grundeinkommen: Dieses beziehe sich auf die Würde des Menschen „und zwar ausnahmslos aller“.

Arbeit sei dann nicht mehr der Dreh- und Angelpunkt. Zugleich sei damit auch ein Freiheitsversprechen verbunden, denn damit könne niemand mehr in ausbeuterische Arbeitserhältnisse gezwungen werden. Und Pau äußerte die These: Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts könnte Entwicklungen hervorgebracht haben, „die historisch über ihn hinausweisen, hin zu einer sozialistischen Gesellschaft“.

Der 102. Katholikentag begann am Mittwochabend und endet am Sonntag mit einem Abschlussgottesdienst. Rund 25.000 Besucher werden dazu in diesen Tagen in Stuttgart erwartet.

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4 Antworten

  1. Herr Kretschmann rüttelt die Kirchen wach!
    Ich finde es gut, wenn MP Kretschmann von mutigen Zeichen und regelmäßigen Gottesdienstbesuche spricht.
    Hoffentlich haben es die Kirchenleitungen (katholisch und evangelisch) verstanden.
    Überall wo Kirchengemeinden (Seelsorgeeinheiten, Distrikte) zusammen gelegt werden, wird der Kirchenbesuch geringer, da nicht alle so mobil sind, oder auch nicht in eine Nachbargemeinde zum Gottesdienst gehen wollen. Daher regelmäßige Gottesdienst vor Ort !

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  2. Menschliche Weisheit
    So viel menschliche Weisheit, biblisch ausgeschmückt. Von Jesus, Gericht Gottes, Sühneschuld, dem frohen Evangelium, Buße und Umkehr, das Jesus bald wiederkommt, dass wir nicht gleichzeitig ein Freund der Welt und ein Freund Gottes sein können, wenig zu hören.
    Menschliche Weisheit – göttliche Weisheit – stehen immer im Widerspruch zueinander.
    Weltliche Politiker müssen die Kirche aufwecken – das muss nachdenklich stimmen.

    Lieber Gruß, Martin Dobat

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  3. Grün-Linker Katholikentag?
    Pau war da, Kretschmann und auch die SPD mit Kühnert, Steinmeier und Scholz. Özdemir von den Grünen samt vieler Parteifreunde.
    Zeitgeistthemen werden verhandelt, Klimaschutz, Klimakrise, Klimakollaps einerseits, Transformation, Integration, Migration, Kolonialismus andererseits. Gendersprech geübt und der „Synodale Weg“ beschworen. Nach Vorstellung der Veranstalter also „die(!) brennenden Themen“.

    Und gleichzeitig ein Teilnehmer-Minusrekord?
    (beim letzten Katholikentag 2018 waren es 90.000 Teilnehmer, diesmal weniger als 30.000)

    Vielleicht sind weder die Themen, noch Gendersprech, noch die einseitige Politisierung das wirkliche Anliegen der Katholiken vor Ort? – und sie haben sich einfach die Anreise zu einer derart voraussehbaren Veranstaltung gespart.

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  4. „Auf dem 102. Katholikentag ist vom katholischen Glauben wenig bis nichts zu spüren. Irgendwann weiß keiner mehr, ob man in der SPD-Zukunftswerkstatt, beim Diversity-Event von Google oder im Sommercamp der Grünen Jugend ist“ (Die Welt)
    So wie bei der CDU unter Angela Merkel die „Sozialdemokratisierung“ stattgefunden hat, so soll die KK sich zur EKD wandeln. Sprich ein weltoffenes, esoterisches, politisches Etwas, das nur noch ansatzweise was mit traditioneller Kirche zu tun hat. Nun wäre das nicht weiter tragisch, man könnte ja auch die Arbeitszweige mit Kindern und Jugendlichen auslagern, eine weitere Gefahrenquelle wäre somit gebannt.
    Glaubenstechnisch ist die Kirche schon seit Konstantin auf dem absteigenden Ast, doch hatte die Volksfrömmigkeit immer eine Art konservierende Wirkung für die Gesellschaft.
    Es gilt der Grundsatz, je mehr Staatsoberhäupter der Kirche zusprechen, umso größer die Gefahr !
    Die Zukunft der „Kirche“ ist freikirchlich, oder zumindest in Parallelstrukturen zu finden, so denn die Freikirchen sich erfolgreich dem Zeitgeist widersetzen. Die Volkskirchen stellen sich ins Abseits und machen sich obsolet ! Das Jesus-Projekt aber geht weiter !

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