pro: Herr Münkler, wie konnte es zum Dreißigjährigen Krieg kommen?
Herfried Münkler: Das Schwierige besteht darin, dass man sich entscheiden muss, ob man wie Ricarda Huch (deutsche Schriftstellerin und Historikerin, Anm. d. Red.) eine Aneinanderreihung von Episoden sieht – und plötzlich ist Krieg! Dann kann man eigentlich nicht genau sagen, warum und ab wann Krieg ist.
Oder ob man der anderen Erzählung folgt, die Friedrich Schiller vorgenommen hat: Die fängt 1517 mit Beginn der Reformation an. Dann kann man den Krieg wesentlich als Konflikt der Konfessionen darstellen, was allerdings in vielerlei Hinsicht nicht zutreffend ist, denn die Protestanten sind geteilt in die moderaten und lange Zeit reichstreuen Lutheraner, geschart um den sächsischen Kurfürsten einerseits, und die sehr auf Konflikt ausgerichteten Calvinisten um den Heidelberger Kurfürsten von der Pfalz andererseits.
Und auf katholischer Seite?
Da gibt es Gruppierungen wie etwa den Wiener Bischof Melchior Klesl, der unter Kaiser Matthias die Politik macht und einer der Kirchenführer im österreichischen Raum und eher auf Ausgleich aus ist. Das, was auf protestantischer Seite die Calvinisten sind, sind auf katholischer Seite die Jesuiten, die diesen Konflikt voran treiben. Bei der Frage, wann der Krieg begann, würde ich sagen: In dem Augenblick, wo bei den Protestanten die Heidelberger und bei den Katholiken die Calvinisten das Sagen haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass es zum Krieg kommen wird.
War ein Auslöser nicht schlicht der Umstand, dass die Katholiken nicht gemäß dem Augsburger Religionsfrieden den Protestanten die gleichen Rechte im Reich einräumen wollen, woraufhin die Proteste in Böhmen erst losgingen?
Ja, aber warum wollen sie das nicht? Weil es keine Reichsinstitutionen gibt, die funktionieren, denen sowohl die protestantische als auch die katholische Seite Vertrauen entgegenbringen. Etwa dass sie sie als eine neutrale und faire Entscheidungsinstanz akzeptieren, um bestimmte Fragen etwa zur Errichtung neuer Gotteshäuser und des Überwechselns in eine andere Konfession zu klären. Und dann kam gewissermaßen aus dem Gestus der Gegenreformation heraus, bei dem sich die Katholiken immer mehr von den Protestanten zurück gedrängt fühlten, der Wunsch auf, sich zu wehren.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
In Donauwörth kam es zu einem interessanten Vorgang: Die ganze Zeit funktionierte protestantische Toleranz gegenüber den wenigen Katholiken, weil sie ihre Prozessionen zu einer Wallfahrtskirche über ein Feld durchgeführt haben. Aber in dem Augenblick, wo sie unter den Einfluss der Jesuiten kamen, begannen sie, durch die Stadt quasi zu „demonstrieren“, mit Musik, Gesang und entrollten Fahnen. Das war so etwas wie die akustische und symbolische Raumnahme. Es kam zu Schlägereien, Protestanten bewarfen die Prozession mit allerlei Unrat, und dann eskalierte dieser Konflikt. In mancher Hinsicht hat mich das erinnert an die Auseinandersetzungen in Nordirland (in den 70er und 80er Jahren, Anm. d. Red.), wo der protestantische Oranier-Orden mit seiner akustischen und symbolischen Raumnahme durch katholische Viertel zog. Ab einem bestimmten Punkt sind es nicht mehr die Moderaten, die das Sagen haben, sondern die Scharfmacher, die sagen: Das können wir uns nicht gefallen lassen! Das verbindet die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges mit vielen Kriegen.
„Luther hätte vermutlich Frieden gepredigt“
Wie sehr ging es beim Dreißigjährigen Krieg um Religion, und wie sehr um Machtfragen?
Wenn wir uns die Vorgänge in Böhmen anschauen, dann kann man sagen, eigentlich beginnt der Krieg wesentlich mit einer Verfassungsfrage und der Machtlagerung, nämlich: Hat das Haus Habsburg allein das Sagen, oder sind die Stände, also der Adel und die Städte, mit dabei? Und auch der Prager Fenstersturz drehte sich unmittelbar um diese Frage, wer in Böhmen das Sagen hat. Aber dann kommt gleich die Konfessionalität hinzu. Das Haus Habsburg wollte das mit der Gegenreformation verbinden und es war auf eine bestimmte Weise katholisch. Und beim böhmischen Adel hatten eine kurze Zeit die Calvinisten das Sagen, und nicht die Lutheraner. Sie verbanden die konfessionelle Identität des Landes mit der Verfassungsfrage. Und die Verfassungsfrage eskalierte. Es kommt noch hinzu: Der Kaiser wäre allein gar nicht fähig zur Kriegsführung gewesen, wenn Spanien nicht mit Geld und Soldaten zur Seite gesprungen wäre.
Was hätte wohl Martin Luther zu diesem Krieg gesagt?
Die Sichtweise der Sachsen, die sich ja als Lutheraner verstanden, wäre der Auffassung Martin Luthers sehr nahe gekommen, so wie es in der Bibel in Römer 13,1 steht: „Seid Untertan der Obrigkeit, denn alle Obrigkeit ist von Gott“. Das heißt, man muss vieles hinnehmen. Und da Luther ja ein distanziertes Verhältnis zu politisch Aufständischen hatte, etwa in der Frage des Bauernkrieges, hätte er sich vermutlich auch nicht mit den rebellierenden böhmischen Adeligen anfreunden können, sondern darauf bestanden, dass des Christen Widerstand die Hinnahme von Leid und Strafe zu sein hat. Luther, der ja in diesen Fragen ein politikkundiger aber nicht an die Politik gebundener Intellektueller gewesen ist, hätte vermutlich zum Frieden gepredigt. Das einzige Mal, wo er geglaubt hat, dass man Krieg führen dürfe, war gegen den „Großtyrann“, also gegen „den Türken“. Der spielte in diesem Krieg ja keine Rolle.
Eine klar christliche Position wäre ja: Schlägt Dich jemand auf die eine Wange, halte ihm auch die andere hin. Was wäre passiert, wenn eine der Seiten diesem Prinzip gefolgt und aufgegeben hätte?
Ich fürchte, das Problem ist, dass über relativ lange Zeit dieser Krieg von den Kriegführenden gar nicht als Krieg begriffen wurde. Denn der Kaiser sagte: Ich sorge nur für Recht und Ordnung, indem ich die verfassungsmäßigen Strukturen durchsetze. Und die Aufständischen sagten: Wir leisten nur legitimen Widerstand gegen eine ungerechte Obrigkeit. So dass wir es mit einem Krieg zu tun haben, an dem ungeheuer viele Mächte beteiligt sind, aber wir kaum Kriegserklärungen gegeneinander haben. Sie wussten eigentlich gar nicht, dass sie den politischen Aggregatzustand vom Frieden zum Krieg gewechselt haben.
Bei der Lektüre Ihres Buchs bekommt man den Eindruck, die protestantische Seite kommt im Dreißigjährigen Krieg moralisch etwas besser weg. Stimmt dieser Eindruck?
Dadurch, dass relativ bald der Katholizismus notorisch in der Offensive war und die Protestanten in der Defensive, liegt vielleicht gewissermaßen die Verantwortlichkeit für das Weitertreiben der Kriegshandlungen, jedenfalls bist zum Eingreifen Schwedens 1630, bei den Katholiken, und sie sind eher die Eskalierer des Konfliktes. Das hat auch damit zu tun, dass sich der bayerische Herzog Maximilian für seine Waffenhilfe gegen die Böhmen entsprechend alimentieren ließ durch einen tiefen Eingriff in die Reichsverfassung, nämlich die Übertragung der Kurwürde von Heidelberg nach München. Dieser Austausch führte dazu, dass der Krieg nicht auf Böhmen begrenzt werden konnte, sondern dann auch auf die Oberpfalz und dann auf die Rheinpfalz übergriff. Ich habe mir aber sonst durchaus Mühe gegeben, als hessischer Lutheraner eine gelassen-neutrale Haltung zu haben.
Wer hat am Ende beim Westfälischen Frieden mehr gewonnen, und wer hat mehr verloren?
Es gibt einen großen Verlierer, das ist das Haus Habsburg, also Spanien, das über weite Strecken aus Kerneuropa herausgedrängt wird, und das ist auch das Kaiserhaus, das viele Konzessionen machen muss. Seine Ziele, die Durchsetzung der Gegenreformation und die Stärkung des Kaisers gegenüber den Reichsständen, hat es nicht erreicht. Die Gewinner sind eindeutig Frankreich und natürlich Schweden, ein bisschen die Niederlande und letzten Endes die Reichsstände, die im Gefolge des Friedensschlusses von Münster und Osnabrück dann zu Souveränen werden. Was die beiden Konfessionen angeht, glaube ich nicht, dass man sagen kann, die Protestanten oder die Katholiken seien in irgendeiner Weise Gewinner; eher könnte man sagen, sie sind beide Verlierer. Die calvinistischen Intellektuellen waren auch eher gegen diesen Friedensschluss, und der Papst verurteilte ihn sogar in einer entsprechenden Bulle. Also man kann sagen: Diejenigen, die aus konfessionell-religiösen Gründen in diesen Krieg involviert waren, stehen beide am Schluss als die Düpierten da.
Aber bedeutete das „cuis regio, eius religio“ nach dem Westfälischen Frieden nicht immerhin, dass ab sofort bei einem Konfessionswechsel eines Landesherrn nicht auch die Bewohner ebenfalls ihre Konfession wechseln mussten?
Richtig. Aber das betrifft natürlich Katholiken ebenso wie Protestanten gleichermaßen. Die Regelung des Augsburger Konfessionsfriedens, die beim Prinzip „cuius regio, eius religio“ auf eine Privilegierung des herrschaftlichen Gewissens hinausgelaufen ist – denn die anderen mussten das dann mitmachen –, wird relativiert.
Welche Folgen hatte der Westfälische Frieden sonst noch in Bezug auf die Kirchen?
In mancher Hinsicht begründet er einen „deutschen Sonderweg“, der in diesem Falle kein Weg ins Verhängnis ist, wie normalerweise der deutsche Sonderweg apostrophiert wird. Das Reich ist in mancher Hinsicht nicht nur herrschaftlich bunt gesprenkelt, sondern auch konfessionell. Und es entwickelt sich hier eine Art von Toleranz, die keine offene, freundliche Toleranz ist. Man kam nicht so wirklich miteinander ins Geschäft, man misstraute einander oder wollte miteinander nichts zu tun haben. Nach einem solchen Krieg ist das ein ungeheurer Fortschritt. Vielleicht können wir uns das in unseren Tagen ein bisschen vergegenwärtigen, wenn wir Bürgerkriege im subsaharischen Afrika danebenhalten, wo es um die Frage geht: Wie können jemals wieder Hutu und Tutsi miteinander leben? Oder wenn wir nach Jugoslawien schauen und uns die Frage stellen: Wie können Serben und Bosniaken und Kroaten in diesem Gebiet, in dem sie zusammenleben müssen und man das Ganze nicht durch eine große ethnische Flurbereinigung auflösen kann, wie können die je wieder miteinander leben?
Kriege vom Typ Dreißigjähriger Krieg auch heute
Was können wir heute aus dem Kriegsausgang lernen?
Der Friedensprozess von Münster und Osnabrück beginnt mit der schwierigen Frage: Wer hat den Vorsitz, wie ist die Rangfolge? Das muss sich erst langsam etablieren. Da hat man, wenn man in den Nahen Osten guckt, Parallelen: Wer wird überhaupt angehört, wer wird zugelassen, wer ist eine Partei, die man gar nicht zu den Gesprächen reinlässt, wie ist die Rangfolge? Da ist Münster und Osnabrück nicht uninteressant, um daraus zu lernen.
Welche Parallelen zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und Kriegen heute sehen Sie noch?
Es gibt Kriege vom Typ des Dreißigjährigen Krieges. Der Krieg im Vorderen Orient und der Zerfall der Ordnung, die in den Pariser Verträgen von 1919 hergestellt worden ist, ist ein solcher Krieg. Der Arabische Frühling ist der Verfassungskonflikt, der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, aber natürlich auch der Konflikt zwischen Dschihadisten und christlichen koptischen Gemeinden, das ist die konfessionell-religiöse Dimension dieses Krieges. Die Hegemonialität kommt rein, wenn man auf Russland und USA schaut, oder auf Iran, Saudi-Arabien und Türkei als die Akteure, die die Hegemonie in diesem Raum haben wollen. Schauen wir in den Nahen Osten, könnte man sagen, im Augenblick ist es noch ein Krieg in Syrien, der möglicherweise demnächst endet, und ein Krieg im Jemen, und ein nach wie vor diffuser Krieg in der libyschen Wüste. Noch sind das voneinander aparte Plätze, wenn es aber nicht bald gelingt, diese Konflikte zu beenden und sie sich miteinander verbinden, woran natürlich bestimmte dschihadistische Organisationen, namentlich der IS, ein Interesse haben, dann könnte es gut sein, dass es in der Retrospektive ein Krieg wird vom Typ Dreißigjähriger Krieg. Man muss ein fundamentales Interesse daran haben zu verhindern, dass das tatsächlich ein Krieg vom Typ Dreißigjähriger Krieg wird. Aber alle Voraussetzungen dafür, dass er es werden kann, sind dort gegeben.
Gab es nach dem Krieg irgendwelche Zeichen der Buße vonseiten der Kirchen?
Nein. Die katholische Kirche findet diesen Frieden nicht besonders gut. Die Lutheraner atmen auf, dass endlich diese Gewalt zu Ende ist. Die Reformierten atmen vielleicht auch auf, aber sie sehen das auch mit einem weinenden Auge, denn sie hätten gerne größere Erfolge gehabt, und letzten Endes sind sie nicht diejenigen, die von diesem Krieg besonders profitiert haben. Aber das ist auch eher etwas, was ins Zwanzigste oder Einundzwanzigste Jahrhundert gehören würde, wo sich die Kirchen für so mancherlei, was sie mal gut fanden und mit entsprechenden Predigten unterstützt und gefördert haben, im Nachhinein entschuldigen. Nun könnte man ja mal darüber nachdenken, ob die Verurteilung des Friedens von Münster und Osnabrück in einer Bulle nicht auch etwas ist, was man vielleicht zurücknehmen könnte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Jörn Schumacher
Von: Jörn Schumacher