Katastrophe hautnah

Seit Donnerstag zeigt die Berlinale internationale Filme. Fernab des prestigeträchtigen Wettbewerbs um den goldenen Bären kam den Zuschauern der deutschen Produktion „Styx" die Flüchtlingskrise am Freitag hautnah. Eine Filmkritik von Anna Lutz
Von Anna Lutz
In „Styx" spielt Susanne Wolff eine Skipperin, die zufällig auf ein in Not geratenes Flüchtlingsboot trifft

Die in der Sektion Wettbewerb laufenden Filme dominieren die Berlinale klassischerweise. Doch manchmal sind es die kleineren Produktionen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. So etwa das am Freitag in einer Weltpremiere gezeigte deutsche Drama „Styx“.

Regisseur Wolfgang Fischer nimmt sich in dieser fast komplett auf dem Meer spielenden Geschichte der Flüchtlingskrise an und trägt der Tatsache Rechnung, dass wohl jeder seiner Zuschauer Bilder aus Auffanglagern oder überfüllten Flüchtlingsheimen zur Genüge kennt. Fischer mag sich die Frage gestellt haben, welche Perspektive der humanitären Katastrophe, die sich vor unser aller Augen abspielt, Unbeteiligte noch zu berühren vermag – und nimmt sein Publikum deshalb mit auf See.

Hilfe entspricht nicht der Firmenpolitik

Der Plot dreht sich um die Notärztin Rike, mitreißend und über lange Zeit als One-Woman-Show gespielt von Susanne Wolff, die plant, mit einem Segelboot alleine von Gibraltar zu einer tropischen Insel im Atlantischen Ozean zu fahren. Die erfahrene Skipperin sichtet auf offener See ein Flüchtlingsboot in Not. Als sie sich nähert, springen einige der Afrikaner ins Wasser. Nur einen etwa 14-jährigen Jungen (Gedion Oduor Wekesa) kann Rike an Bord ziehen und medizinisch versorgen, die anderen muss sie vorerst ihrem Schicksal überlassen, um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Zwar kontaktiert Rike die Küstenwache, die ihr zusichert, sich um die in Not Geratenen zu kümmern. Doch als auch nach Stunden kein Helfer in Sicht ist, sucht sie Hilfe bei in der Nähe schippernden Tankern. Ein Kapitän antwortet ihr, es widerspreche der Firmenpolitik, Geflüchteten auf See zu helfen. So macht sich die Ärztin letztlich doch selbst auf den Weg zurück zum sinkenden Boot.

„Styx“ stellt die Frage, wie jeder Einzelne mit der Flüchtlingskatastrophe umgehen würde, wenn sie sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte. Zu Beginn des Segelturns zeigt der Regisseur eine hochprofessionalisierte Skipperin, die mithilfe von Computern, digitalen Uhren und sensiblem Navigationsgerät ihren Weg übers Meer findet. Im Sturm trägt sie wasserdichte Schutzkleidung, ihr Boot ist gefüllt mit mehr Proviant, als sie auf ihrem Weg verzehren kann. Im Gegensatz dazu geht den Geflüchteten auf dem sinkenden Boot sogar das Wasser aus. Fischer kreiert so ein Sinnbild für den europäischen Wohlstand im Vergleich zu der Not der Fliehenden aus Afrika.

Gefühl statt Nachrichtenmeldungen

Fischers Verdienst ist es, all jenen, die ihren Alltag fernab der katastrophalen Zustände an den Rändern Europas bestreiten, in Erinnerung zu rufen, dass sich hinter dem Wort Flüchtlingskatastrophe einzelne menschliche Schicksale, Leben und Tod, Eltern und Kinder verbergen. So wie der Flüchtlingsjunge Kingsley Rike im Film daran erinnert, dass er auf dem Boot seine Schwester zurückgelassen hat. Als Rike ihm erklärt, dass sie ihr nicht helfen kann, betet der Junge in seiner Sprache. Zu verstehen ist nur das unter Tränen hervorgebrachte Amen am Schluss.

„Styx“ lässt den Zuschauer die Verzweiflung in Not Geratener spüren, als Kingsley Getränkeflaschen ins Wasser wirft, in der Hoffnung, sie würden vom Meer irgendwie in Richtung seiner Familie getrieben. Er fügt dem Elend, das uns Europäer mit jeder abendlichen Nachrichtensendung alltäglicher erscheint, wieder ein Gefühl hinzu und stellt die Frage: Was würden Sie tun?

Von: Anna Lutz

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