Kant-Geburtstag: „Als Christenmensch muss man sich vor dem Denken nicht fürchten“

Immanuel Kant gehört zu den bedeutendsten Philosophen der Neuzeit. Zu dessen 300. Geburtstag hat PRO mit dem Theologen Christoph Markschies gesprochen. Ein Interview über den Kategorischen Imperativ, den Glauben Kants – und über senfgelbe Westen.
Von PRO
Der Philosoph Immanuel Kant wurde vor 300 Jahren geboren

PRO: Herr Markschies, gibt es ein Zitat, an das Sie bei Immanuel Kant sofort denken müssen?
Christoph Markschies: Ja: „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Der bestirnte Himmel hat nicht nur Kant mit „immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllt, sondern erfüllt auch mich selbst. Dieses Zitat verbindet mich schon dann mit Kant, wenn ich etwa auf den blauen Nachthimmel schaue und die Sterne sehe. Es verdeutlicht zunächst einmal, dass seine Philosophie es immer auch mit menschlicher Erfahrung zu tun hat und der Frage, wie ich philosophisch verantwortlich mit ihr umgehe. Es geht Kant aber vor allem um die Parallelität der Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Moral. Der Philosoph staunt darüber, dass wunderbarerweise alle Menschen mit einem freien Willen vernünftigerweise dieselben moralischen Regeln anerkennen müssen. Als Theologe staune ich auch über den Schöpfer, auf den ich diese parallelen Gesetzmäßigkeiten zurückführe. Das ist bei Kant an dieser Stelle nicht so im Blick, aber er war eben Philosoph und ich bin Theologe. Da kommt man natürlich zu partiell unterschiedlichen Deutungen der Wirklichkeit.

Der Philosoph Marcus Willaschek hat gegenüber epd gesagt: „Immanuel Kant ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit“. Stimmen Sie ihm zu?
Ja. Marcus Willaschek hat ein großartiges Buch geschrieben, das trotz hoher inhaltlicher Dichte sehr gut lesbar ist. (Anmerkung der Redaktion: Kant. Die Revolution des Denkens, München 2023). Es zeichnet sich dadurch aus, dass es gelegentlich zarten Widerspruch gegen Kant ganz präzise argumentiert.

Seit der Geburt Immanuel Kants hat sich die Welt radikal verändert. Was hat er uns heute noch zu sagen?
Ich habe in meinem Philosophiestudium einen Kant kennengelernt, der vor allen Dingen etwas zur Erkenntnistheorie und zur Ethik beizutragen hat. Das ist aber nur ein Teil dessen, was seine bleibende Bedeutung ausmacht. Kant ist auch ein Vordenker einer Welt-Friedensordnung. Zudem entwirft er die Idee eines „Weltbürgerrechts“. Wir sollen andere Menschen als unsere Mitbürger in der Welt wahrnehmen und eine Verletzung ihrer Rechte „an einem Platz der Erde“ zugleich „an allen“ fühlen.
Damit hat Kant die Idee vorbereitet, dass es nicht nur kollektive Rechte der Menschheit gibt, sondern auch weltweit geltende individuelle Rechte. Angesichts der vielen internationalen Krisen unserer Tage ist das hochaktuell. In Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ gibt es Gedanken, die man als Vorläufer für die Charta der Vereinten Nationen verstehen kann. Seit dem letzten Jahrhundert denken wir nicht nur über eine Welt-Friedensordnung nach, sondern haben auch Institutionen, die sie absichern können. Das ist auch eine der beeindruckenden Wirkungen seiner Ideen.
In 300 Jahren hat sich die Welt natürlich radikal verändert. Aber mich verblüfft dabei, wie stark die französische Revolution Kant dazu angeregt hat, für eine stärkere Bürgerbeteiligung am Prozess der Gesetzgebung einzutreten – ohne, dass er deswegen Anhänger unseres Ideals einer parlamentarischen Demokratie war, wie sie im Grundgesetz normiert worden ist.
Kant war aber auch von Berufs wegen Naturwissenschaftler. Das wurde mir während meines Studiums ebenfalls nicht genügend deutlich. Er hat aber auch, um noch eine heute weniger bekannte, immer noch aktuelle Dimension seines Oeuvres zu nennen, als recht junger Dozent über die Entstehung des Kosmos nachgedacht. Seine Annahmen über die Entstehung von Planetensystemen sind gar nicht so weit entfernt von der heute allgemein akzeptierten Nebular-Hypothese.
Was mich als Theologen stark beeindruckt, ist der nach wie vor höchst aktuelle Versuch Kants, sein Bild vom Menschen so zu entwerfen, dass es weder übertrieben optimistisch noch übertrieben pessimistisch ausfällt. Das liegt sicher auch daran, dass Kant ein stark pietistisch geprägtes Gymnasium besucht, ein wenig Theologie studiert hat und zeitlebens eng mit Theologen befreundet war. Berühmt ist seine Formulierung vom „krummen Holze, … woraus der Mensch gemacht ist“ und aus dem „nichts ganz Gerades gezimmert werden“ kann. Das ist zwar ganz gewiss keine biblische Vorstellung von der Sündhaftigkeit des Menschen, aber sozusagen eine philosophische Abschattung oder Transformation der höchst realistischen biblischen Anthropologien. Der berühmte Theologe Adolf von Harnack hat 1924 bei der Einweihung des renovierten Kant-Grabmals in Königsberg eine Rede über Kant gehalten. Dabei fiel kein einziges Mal die unter Harnacks Zeitgenossen beliebte Formulierung von Kant als dem „Philosophen des Protestantismus“. Ob Kant das je wirklich war und ob er es in Zukunft sein sollte, darüber kann man mit Fug und Recht streiten. Aber er ist in jedem Falle ein Philosoph, der an vielen Stellen in bewusster Absetzung von seiner pietistischen Schulbildung formuliert, und dann doch überraschend nahe bei manchen biblischen Befunden bleibt. Das nehme ich mit gewisser Freude zur Kenntnis.

Haben Sie ein Beispiel?
Ich denke vor allem an sein Menschenbild. Und dabei besonders an den Unterschied zu einer in der damaligen Aufklärung auch stark verbreiteten, außerordentlich optimistischen Ansicht von den intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen. Viele dachten damals, im Rahmen des allgemeinen Fortschritts werde es zu einer deutlichen Optimierung dieser Fähigkeiten kommen. Das bereits zitierte Wort vom „krummen Holz“ macht deutlich, dass Kant bei aller Hoffnung auf das Zeitalter der Aufklärung und die Fähigkeit des Menschen zu vernünftigem Denken sowie moralischer Autonomie realistisch auch die Grenzen sah. Selbst wenn das nicht immer in einer so deutlichen Metapher wie der vom „krummen Holz“ ausgedrückt ist.
Bei ihm findet sich die Vorstellung vom „radikal Bösen“, von einem menschlichen „Hang zum Bösen“, der mit der „Anlage zum Guten“ im Konflikt liegt. Willaschek hat das mit Recht als eine „philosophische Ausdeutung der christlichen Erbsündenlehre“ interpretiert. Man kann noch weitergehend sagen, dass auch der Versuch, beim Menschenbild den mittleren Weg zwischen Pessimismus und Optimismus zu halten, viele theologische Konzepte prägt und so auch viele katholische und evangelische Versuche, mit den eher pessimistischen Anthropologien eines Augustinus oder Luther kreativ umzugehen. Diese Wurzeln der philosophischen Anthropologie Kants im theologischen Denken seiner Zeit und die bleibenden Konvergenzen in seinem Denken könnte man sicher noch sehr viel ausführlicher entfalten, als das im Buch von Marcus Willaschek schon geschehen ist.

Kant war Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, deren Nachfolgeorganisation Sie ja jetzt als Präsident der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorstehen. Er war Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg und hat Zeit seines Lebens wesentlich in Königsberg gelebt und gearbeitet. Russland und der Westen haben sich allerdings völlig unterschiedlich entwickelt. Auch der Nationalismus, der viel Unheil über die Welt gebracht hat, ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Im 20. Jahrhundert folgten die beiden Weltkriege. War Kant seiner Zeit wirklich 250 Jahre voraus?
Das ist eine Frage, die man nur entschlossen mit Ja und Nein gleichzeitig beantworten kann. Ein paar Ideen seines Denkens waren für die damalige Zeit recht ungewöhnlich. Diese habe ich schon erwähnt. Da Kant sehr gern scharf dachte, hat er verschiedene gedankliche Herausforderungen formuliert, die bis heute bedeutend sind. Er stellte so basale Fragen, wie die nach der Struktur von Raum und Zeit. Sind nur meine Wahrnehmung und mein Denken zeitlich und räumlich strukturiert oder auch die Welt außerhalb meines Selbst, die ich wahrnehme und zu bedenken versuche? Diese Fragen müssen sie im 18. und im 21. Jahrhundert stellen und auf sie wird sehr verschieden geantwortet. Nach wie vor beantworten einige die Frage so, wie Kant sie beantwortet hat. Da war er also seiner Zeit durchaus voraus.
Gleichzeitig gilt, dass Kant seiner Zeit in einem ganz elementaren Sinne auch nicht voraus war – etwa, als er im Zusammenhang des Siebenjährigen Krieges 1757 ein äußerst devotes Schreiben an Zarin Elisabeth nach Sankt Petersburg sendete. Er erhoffte sich von ihr, in eine ordentliche Professur gebracht zu werden. Aber dann übernahm 1763 wieder die preußische Armee die Stadt. Kant hatte gewissermaßen auf das falsche Pferd gesetzt. Man darf sich ihn eben nicht als weltfremden Philosophen vorstellen. Er hat sich auch auf die russische Besatzungsherrschaft eingelassen, pragmatisch und darin übrigens äußerst erfolgreich geführt. Das sieht man daran, dass er im Lauf seines Lebens ein beträchtliches Vermögen aufgebaut hat und sich ein für damalige Maßstäbe ziemlich elegantes Haus direkt am Königsberger Schloss gekauft hat.
Kant war selbstverständlich ein Kind seiner Zeit. Das merkt man aus meiner Sicht sehr deutlich daran, dass er seinen eigentlich ungemein kritischen Impuls in den seit 1756 regelmäßig gehaltenen Vorlesungen über die physische Geografie nur sehr wenig im Umgang mit seinen verwendeten Quellen nutzte. Er legte seinen Vorlesungen für unseren heutigen Geschmack eher halbwissenschaftliche Reiseberichte zu Grunde und vertrat Theorien über die Entstehung unterschiedlicher Hautfarben oder über den Charakter von Menschen in anderen Erdteilen, die uns heute schwer irritieren und die man damals schon kritischer hätte diskutieren können. So äußerte Kant beispielsweise gegenüber seinen Studenten aufgrund eines Reiseberichtes eines Kulmbacher Gymnasiallehrers die Ansicht, dass das Rhinozeros ein besonders dummes Tier sei, obwohl er niemals selbst ein Rhinozeros gesehen hatte.

Kants wohl berühmtester Satz ist der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Was bedeutet das konkret?
Kant stellt sich die Frage: Wie können wir im Bereich von Ethik und Moral auf ein allgemein verbindliches Gesetz zurückgehen, das unabhängig von meiner persönlichen Lage für alle Menschen gilt? Und es sollte zugleich nicht dadurch autorisiert sein, dass Gott mir dieses Gesetz gegeben hat, sondern dass ich aufgrund meiner eigenen Vernunft erkennen kann, dass es mich binden sollte. Kant suchte nach einer ganz grundlegenden Regel, nach der ich diesem für alle verbindlichen Gesetz entsprechend handeln kann, ohne dafür ein langes philosophisches Buch zur Hand nehmen zu müssen. Es geht also immer auch um eine ganz alltägliche Situation, wenn ich ein Portemonnaie auf der Straße finde und frage, ob ich es nehmen darf oder zum Fundbüro bringen muss?. Wenn ich den Kategorischen Imperativ anwende, wird sofort klar: Ich kann nicht wollen, dass jemand mit meinem Portemonnaie nicht zum Fundbüro geht. Ich muss für mich selbst meine Handlungen so entwerfen, dass ich wünschen kann, dass alle auch mich selbst so behandeln.

Jesus Christus hat 1700 Jahre vor Kant gesagt: „Alles nur, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ War Kant wirklich so revolutionär?
Menschen haben Jesus von Nazareth ja meistens nicht deswegen geglaubt und seine Gebote befolgt, weil er oder seine Gebote logisch von bestechender Kraft waren. Sie hatten den Eindruck, hier handelt es sich um den Sohn des lebendigen Gottes, der in Vollmacht Gottes Gebote für uns verbindlich auslegt. Sie sind meist einer Autorität gefolgt. Das Entscheidende am Kategorischen Imperativ ist die neue Begründungsfigur für die Ethik, die er im Unterschied zum klassischen Modell göttlicher Autorität formuliert. Kant war der Auffassung, dass er mit dem Kategorischen Imperativ ein Gesetz formuliert hat, das für alle Menschen gilt, egal, ob Christen oder Nichtchristen, kluge Leute oder weniger kluge Leute. Es ist allein durch die Vernunft als korrekt einzusehen und braucht keine religiöse Autorität im Hintergrund. Das jesuanische Gebot ist bei Kant in eine säkulare Begründungsfigur übernommen.

Foto: Heike Huslage-Koch | CC BY-SA 4.0 International

Zur Person

Christoph Markschies, Jahrgang 1962 ist evangelischer Theologe. Seit 2019 ist er Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin und Professor für Antikes Christentum.

Kant kommt aus einem pietistischen Elternhaus, hat eine pietistische Schule besucht. Später hat er sich davon distanziert. War ihm eine religiöse Autorität zuwider?
Unbestritten ist inzwischen in der Forschung, dass Kant die pietistische Frömmigkeit seiner Jugend im Laufe seines Lebens abgelegt hat. Er besuchte jedenfalls keine Gottesdienste mehr und hatte wohl überhaupt kein eigenes geordnetes religiöses Leben mehr. Kant ist, etwas zugespitzt formuliert, erst als Leiche im Sarkophag bei seiner eigenen Trauerfeier wieder in den Königsberger Dom gekommen. Zugleich gehörte aber zu seinen engsten Freunden ein Königsberger Pastor.
Es gibt einen großen Streit in der Forschung: Einige Wissenschaftler sagen, Kant sei eigentlich Atheist gewesen und habe sich nur nach außen noch als gottgläubig gegeben. Dafür gibt es allerdings überhaupt keine Quelle. Diese Sichtweise ist auch deswegen unwahrscheinlich, weil Gott eine wichtige Funktion in Kants philosophischem System hat. Kant formulierte ja den berühmten Satz, dass er „das Wissen aufheben“ musste, „um zum Glauben Platz zu bekommen“. Er möchte in seinem Denken jede Funktion Gottes als metaphysisch abgesicherte Quelle der Autorisierung in der Philosophie beenden.
Gott ist bei ihm ein unvermeidliches Postulat, aber er autorisiert nicht das Moralgesetz. Kant würde niemals sagen: „Ich tue etwas, weil Gott möchte, dass ich so und nicht anders handle“. Was er selbst geglaubt hat, ist nicht wirklich zu beantworten, weil auch der befreundete Pfarrer nicht aufgeschrieben hat, was Kant etwa zur Auslegung biblischer Geschichten gedacht hat.
Die Frage seiner persönlichen Frömmigkeit ist aber eigentlich auch unerheblich, wenn es um seine Philosophie geht. Solche Zusammenhänge wie die, dass Kant eine ganze Zeit offenkundig schick aussehen wollte und gern senfgelbe Westen trug, sind höchstens für Historiker interessant. Für die Philosophie Kants ist das nebensächlich.

Allerdings kann auch nicht jeder Senfgelb tragen.
Ja, das ist sicher wahr. Kant konnte es offenbar schon tragen. Er war ein außerordentlich beliebter akademischer Lehrer und hat darauf geachtet, dass er nicht verlottert aussah.

Was kann Kant uns als Christen heutzutage sagen?
Von Kant können wir lernen, dass man sich als Christenmensch vor dem Denken nicht fürchten muss. Glauben und Denken passen zusammen, wenn man auf die Unterschiede achtet. Kant ist in vielen Schriften gar nicht so schwer zu verstehen. Er formuliert angenehm und macht uns immer wieder mit seinen Überlegungen deutlich, dass auch die, die nachdenken, guten Gewissens Christen sein können. Man muss nicht den Verstand an der Garderobe abgeben, um Christ zu bleiben, sondern kann sich auf alle Wege mit Kant begeben und trotzdem Platz für den Glauben behalten. Ob man philosophisch zum Kantianer werden muss oder ihm an bestimmten Punkten widersprechen sollte, ist eine philosophische Fachfrage. Die hat allerdings wenig mit dem christlichen Glauben zu tun.

Vielen Dank für das Gespräch.

Von: Nicolai Franz und Petra Kakyire

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