Im EU-Parlament streiten Politiker seit Monaten dafür, Abtreibungen als Menschenrecht zu definieren. Mit den Europawahlen Ende Mai könnten sich die Gräben in Brüssel noch weiter vertiefen.
Von PRO
Foto: Fred Marvaux
Die portugiesische Sozialistin Edite Estrela nannte den Sieg ihrer Gegner „Obskurantismus“ und „Heuchelei“. Die Rechte der Frau würden dadurch geschwächt
Sie machen mir keine Angst! Sie können mich nicht einschüchtern!“ Die Abgeordnete Edite Estrela muss in das Mikrofon ihres Platzes im Europäischen Parlament schreien, um ihre politischen Gegner zu übertönen. „Und ich habe Recht!“ Es ist so laut, dass die Dolmetscherin Schwierigkeiten hat, Estrelas Portugiesisch zu übersetzen. „Ich möchte, dass mein Name von diesem Abstimmungsergebnis gestrichen wird!“ Es ist der 10. Dezember 2013, 12.54 Uhr. Estrela ist mit ihrem Vorstoß zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts gerade gescheitert. Zum zweiten Mal. Trotzdem genießt die Abgeordnete den Applaus ihrer Fraktionskollegen. Sie weiß, dass der Kampf noch längst nicht vorbei ist.
Mit dem Estrela-Bericht hatte der Frauenausschuss die europaweite Legalisierung von Abtreibungen gefordert und diese als „Menschenrecht“ bezeichnet. Außerdem sollten die Mitgliedstaaten verbindlichen Sexualkunde-Unterricht erteilen – und zwar unabhängig von der Zustimmung der Eltern. Bereits Grundschüler sollten in einer „sicheren, tabufreien und interaktiven Atmosphäre zwischen Schülern und Erziehern“ Sexualerziehung erhalten. Diese Forderungen fasst der Bericht unter dem Begriff „sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte“ zusammen.
Schwangerschaftsabbrüche sollen also als Gesundheitsmaßnahme verstanden werden. Wer das in Frage stelle, verletze „die Rechte von Frauen und Mädchen auf Gleichstellung, Nichtdiskriminierung, Würde und Gesundheit sowie Freiheit und Schutz vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung“. Im Klartext heißt das: Wer sich gegen Abtreibung einsetzt, bricht die Menschenrechte.Über den Estrela-Bericht sollten die EU-Abgeordneten bereits im Oktober 2013 entscheiden. Doch dazu kam es nicht. Stattdessen verwiesen sie ihn nach einer hitzigen Debatte völlig überraschend zurück in den Frauen-Ausschuss. Damals wurde Estrela von konservativen Abgeordneten ausgebuht. Im Dezember kam der Bericht erneut zur Abstimmung – ohne große Veränderungen.In der Zwischenzeit betrieben Unterstützer wie Kritiker des Berichtes intensive Lobbyarbeit. Abgeordnete berichteten, sie hätten noch nie so viel Post von Bürgern bekommen wie zu diesem Thema. Der Protest gegen das Papier gipfelte einen Tag vor der Abstimmung in einer Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz: „Wir bitten die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes dringend, diese Entschließung abzulehnen.“
Der Widerstand zeigte Wirkung. Mit knapper Mehrheit wurde der Estrela-Bericht abgelehnt. Stattdessen betonte das Parlament, für Themen wie Abtreibung seien die Mitgliedsstaaten zuständig, nicht die EU.
Wer in der EU grundlegende Überzeugungen verändern will, braucht einen langen Atem. Wäre der Bericht durchgekommen, hätte man sich nachher darauf berufen können, dass die EU die „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ ja bereits als Menschenrecht definiert habe, um weitere Schritte zu gehen. Dieser Versuch war zunächst gescheitert.
EU-Abgeordnete nennt Berufung auf christliche Werte „Obskurantismus“
Doch wer dachte, das Thema sei damit erledigt, hatte sich getäuscht. Denn in Europa tobt in dieser Frage – weitgehend ignoriert von deutschen Medien – ein Kampf der Ideologien. Konservative gegen Progressive, Linke gegen Rechte. Christliche Werte haben Fürsprecher. Und erbitterte Gegner. Vor wenigen Wochen schickte die belgische Abgeordnete Véronique de Keyser eine E-Mail, die pro vorliegt, an alle Abgeordneten und deren Assistenten. De Keyser wettert darin gegen die Äußerung dreier Abgeordneter. Diese hatten zu sagen gewagt, dass christliche Werte die Wurzeln der Europäischen Union und ihrer Gründerväter seien. De Keyser forderte, dieser „Obskurantismus“ müsse bekämpft werden: „Das ist nicht Europa! Europa ist eins der Aufklärung, ein Europa des freien Denkens, ein Europa der Trennung von Staat und Kirche.“ Auf Anfrage von pro bestätigte de Keyser die E-Mail. Sie wollte sich „aus Zeitgründen“ aber nicht dazu äußern, ob sie grundsätzlich der Meinung sei, Politiker sollten sich nicht mehr auf christliche Werte berufen dürfen.
War eine Abtreibungsorganisation am Estrela-Bericht beteiligt?
Die Trennung der beiden Lager könnte sich durch den Wegfall der Drei-Prozent-Hürde in Deutschland und das steigende Misstrauen gegenüber der EU noch weiter voneinander entfernen. Debatten über wichtige ethische Themen dürften schwieriger werden. Lobbyisten beider Seiten leisten exzellente Arbeit – und das vertieft die Gräben zusätzlich. So war nach pro-Informationen die amerikanische Non-Profit-Organisation „International Planned Parenthood Federation“ (IPPF), die sich unter anderem für Abtreibungen einsetzt, am Estrela-Bericht maßgeblich beteiligt. Gegenüber pro widersprach eine IPPF-Sprecherin: „Wir haben den Berichtsentwurf nicht geschrieben, es ist Edite Estrela, die ihn geschrieben hat.“ Ob die IPPF auf andere Weise daran mitgewirkt habe? Darauf gab deren Sprecherin keine Antwort.
Mit Estrelas Niederlage war die Schlacht verloren, aber der Kampf noch nicht vorbei. Der nächste Versuch der Abtreibungsbefürworter folgte am 16. Januar 2014, nachdem sie eine Parlamentsdebatte über das Thema „Gleicher Zugang zu Diensten im Bereich sexueller und reproduktiver Gesundheit“ beantragt hatten. Frauenrechtler wollten dadurch eine Erklärung der EU-Kommission erwirken, die ihre eigene Sichtweise bestätigt. Die gesetzlichen Einschränkungen von Abtreibungen sollten als Benachteiligungen von Frauen interpretiert werden – ein geschickter Schachzug. Denn: Für Abtreibungen ist die EU nicht zuständig, wohl aber für die Bekämpfung von Diskriminierung.
Doch darauf ließ sich der Vizepräsident der EU-Kommission, Siim Kallas, nicht ein. Die EU-Verträge würden keine Grundlage dafür bieten, den Mitgliedsstaaten etwas vorzuschreiben, was mit diesem „sehr sensiblen Thema“ zusammenhänge: „Daher kann sich die EU auch nicht einmischen.“Auch dieses Machtwort der EU-Kommission beeindruckte Estrela und deren Gleichgesinnte nicht. Am 10. März gab es den vorerst letzten Vorstoß im EU-Parlament, Abtreibungen als Menschenrecht zu definieren, diesmal durch die portugiesische Grünenpolitikerin Inês Zuber. Zum Weltfrauentag präsentierte diese einen Bericht gegen die Diskriminierung von Frauen. Das Parlament sollte sich gegen ungleiche Bezahlung und für gleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aussprechen. Themen, die als zustimmungssicher gelten. Ziemlich versteckt nannte der Bericht aber auch die „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ von Frauen als wesentliches Grundrecht inklusive des „Rechts auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch“.
„Alle Positionen sind ideologisch“
Am Tag der Abstimmung gab es mehr als 50 Änderungsanträge. Zuber rieb sich während des Abstimmungsmarathons immer wieder nervös mit der Hand über die Lippen. Ob der Bericht durchkommen würde? In der Debatte traf der Bericht noch auf weitgehende Zustimmung – auch wenn einige Abgeordnete kritisierten, Zuber nutze den Weltfrauentag aus, um die eigene Ideologie durchzusetzen.
Ihre Antwort war von erfrischender Klarheit. Offen gab sie zu, ihr Dokument sei ideologisch geprägt. Man könne deswegen doch niemanden anklagen. „Alle politischen Positionen sind ideologisch.“ Vielleicht war das der Auslöser dafür, dass die Abgeordneten den Bericht ablehnten. „Eine Schande“ nannte Zuber die Entscheidung. Damit war schon der vierte Versuch gescheitert, Abtreibung zum Menschenrecht zu erklären. Es ist zu erwarten, dass es auch einen fünften geben wird. (pro)
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