Jeden Tag lesen mehrere hunderttausend Österreicher eine Zeitung namens Österreich, knapp als 570.000 Examplare umfasst die Gesamtauflage der Zeitung, deren etwas abgespeckte Gratisversion praktischerweise schon am frühen Morgen etwa an den Wiener U-Bahnstationen ausliegt und aus diesem Grund von zahlreichen Pendlern gern in die Hand genommen wird. In Fernseh-Werbespots bezeichnet sich die Zeitung gerne selbst als „unabhängig“ und „wirklich kritisch“, eine Recherche der neuesten Ausgabe des Investigativmagazins Dossier jetzt allerdings einmal mehr in Deutlichkeit, dass man diese Selbstbeschreibung mit gutem Grund als Lüge bezeichnen kann.
Schlimmer noch, die von Dossier-Chefredakteur Florian Skrabal zusammengetragenen Erkenntnisse zeichnen ein Bild des journalistischen Machtmissbrauchs in Österreichs drittgrößter Tageszeitung. Es scheint dabei die folgende Strategie zu gelten: Wenn ein Politiker oder Wirtschaftsboss in der Zeitung Österreich beziehungsweise auf oe24.at ausreichend inseriert, wird er oder das jeweilige Unternehmen dafür im journalistischen Teil der Zeitung gelobt, macht er das nicht, kann er hingegen mit negativer bis vernichtender Berichterstattung rechnen.
Wie eine Zeitung eine Außenministerin und einen Bundeskanzler vor sich her trieb
Um diese These zu untermauern, zitiert Dossier mehrere, teils anonyme Zeugen – allen voran die ehemalige Außenministerin der vergangenen ÖVP-FPÖ-Regierung, Karin Kneissl (parteifrei, von der FPÖ nominiert), – einst selbst Journalistin –, die ihre Erfahrung mit der Zeitung Österreich gar „an Mafiamethoden der 1930er-Jahrer in Chicago“ erinnert. Kneissl hatte, so Dossier, gleich nach Beginn ihrer Amtszeit die Werbeausgaben des Außenministeriums drastisch reduziert, wodurch es auch für die Publikation Österreich viel weniger Geld gab. Kurz darauf wurde sie in der Zeitung als „Ablösekandidat“ bezeichnet, Herausgeber Wolfgang Fellner – das von vielen gefürchtete Mastermind der Zeitung gründete bereits als 14-Jähriger eine fortan äußerst erfolgreiche Jugendzeitschrift – schrieb in einem Kommentar: „Karin Kneissl wirkt zu Beginn schräg, wirr, teilweise ahnungslos im Politgeschäft. Ein Risiko.“
Weitere versteckte Angriffe seien gefolgt, nachdem Kneissl erkrankte: So habe die Zeitung Reporter ins Ministerium geschickt, die dort fragten: „Ist sie schon tot?“ Ähnliches erzählt auch Christian Kern (SPÖ), der zu Beginn seiner Karriere ebenfalls Journalist und von 2016 bis 2017 österreichischer Bundeskanzler war. Nach seinem Amtsantritt habe er zusammen mit dem damaligen Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) geplant, das Inseratenbudget der österreichischen Bundesregierung zu kürzen. Dazu muss man wissen, dass die österreichische Regierung 2016 mehr Geld für Inserate ausgegeben hat als die deutsche, nämlich 16,2 im Vergleich zu 15,6 Millionen Euro – und das, obwohl Deutschland von der Einwohnerzahl über neunmal so groß ist wie Österreich.
Kern erinnerte sich im Interview von Dossier an ein Treffen mit Österreich-Herausgeber Fellner: „[I]n der Sache hat Herr Fellner das als unfreundlichen Akt gesehen.“ Nachdem sich Ex-Bundeskanzler Kern weigerte, den finanziellen Interessen des Boulevards Folge zu leisten, spürte er die publizistischen Auswirkungen: „Im Grunde ging es um die Frage: Wer regiert das Land? Österreich und die Krone (Anm. d. Red.: die Kronen Zeitung, Österreichs größte Boulevardzeitung) oder die Politik? […] Mein Verhältnis zu beiden Zeitungen war restlos zerrüttet. Das war vermutlich auch wahlentscheidend.“ Damit spielt er auf die Nationalratswahl 2017 in Österreich an, die Kern gegen die von Sebastian Kurz neu aufgestellte ÖVP verloren hat: Einerseits habe die Zeitung Österreich eine „Pro-Kurz-Kampagne“ gefahren, andererseits den Kontrahenten Kern aber mit immer persönlicheren Angriffen schlechtgeschrieben.
Der mutmaßliche Tiefpunkt: „Österreich hat meine Frau und mich mitten im Wahlkampf mit einem mutmaßlich georgischen Kriminellen in Verbindung gebracht. Den Mann haben wir weder gekannt noch von seiner Existenz gewusst“, erinnert sich der inzwischen aus der Politik ausgeschiedene Kern, der die Zeitung zwischenzeitlich als Inseratenkunde und Interviewpartner boykottierte. Es sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass Herausgeber Fellner die erwähnten Vorwürfe bestreitet, ohne sie jedoch im Detail zu entkräften. Auch ist klar: Kneissl, Kern, Mitterlehner – der in seiner Biographie Ähnliches berichtet hat – und zahlreiche anonyme Quellen müssten allesamt lügen, wenn die Vorwürfe gegen Fellner tatsächlich „jeder Grundlage entbehren“ würden, wie dieser gegenüber Dossier behauptete.
Journalistische Erpressungsversuche sind in Wien unterdessen keine Neuheit. Der 2018 verstorbene Historiker Gerhard Jagschitz erinnert in einem Aufsatz zur österreichischen Zeitungsgeschichte an die Machenschaften der sogenannten Revolverjournalisten der 1920er-Jahre: „Ihr Handwerk war die politische Korruption und Erpressung, die meist nach einem Schema ablief: man kündigte Artikelserien gegen Firmen und einflußreiche (sic) Personen an, ließ aber durchblicken, eine finanzielle Entschädigung könnte die Veröffentlichung verhindern.“
Boulevardzeitungen als spezifisch-österreichischer Machtfaktor
Ob die Boulevardberichterstattung tatsächlich wahlentscheidend für Sebastian Kurz‘ Sieg über die SPÖ unter Christian Kern war, lässt sich natürlich nicht beweisen. Ein gewichtiger Machtfaktor sind Boulevardmedien im kleinen Österreich aber allemal – allein schon aufgrund ihrer – etwa im Vergleich zu Deutschland – enorm hohen Verbreitung: So hat die Kronen Zeitung trotz des Größenunterschieds zwischen beiden Ländern die halb so große Auflage wie die deutsche Bild-Zeitung (700.000 zu 1,4 Millionen Exemplare), dazu kommt Österreich mit der am Anfang erwähnten Auflage von knapp 570.000 Stück und die Gratistageszeitung „heute“ mit knapp 580.000 Exemplaren. Umso bedenklicher ist es natürlich aus demokratiepolitischer Sicht, wenn sich Amtsträger und solche, die es werden wollen, positive Berichterstattung mithilfe von Inseraten kaufen können und mit negativer Berichterstattung zu rechnen haben, wenn dieselben Inserate ausbleiben.
Auch für Satiriker ist es ein gefundenes Fressen, dass in Österreich viele Millionen Euro an öffentlichen Geldern über Werbeeinschaltungen an Boulevardzeitungen fließen. Im Video ist das Duo Christoph & Lollo mit „Bettelmafia“ zu sehen.
Ein Zeitungsmacher, ein Silberschmied und die eigene Geldtasche
Das dahinterliegende Prinzip ist leicht zu durchschauen: Wer sich geschäftsschädigend verhält, muss mit dem Gegenwind derer rechnen, die ihren Verdienst in Gefahr sehen – nötigenfalls mit moralisch fragwürdigen Mitteln. Bereits im Neuen Testament der Bibel findet sich eine denkwürdige Episode, in der sich dies manifestiert: Gleich nach Beginn seiner dritten Missionsreise bleibt der Apostel Paulus ganze zwei Jahre in Ephesus, einer griechisch-römischen Stadt in der heutigen Türkei, die vor allem für ihren Artemistempel berühmt war: Der heute weitgehend zerstörte Tempel gehörte damals sogar zur berühmten Liste der sieben Weltwunder, dem wohl berühmtesten „Architekturführer“ der Antike. In diesem Kontext kann man es sich gut vorstellen, dass man sich im antiken Ephesus mit religiösem Merchandising eine goldene – oder in diesem Fall wohl eher: silberne – Nase verdienen konnte.
Das wusste auch Silberschmied Demetrius, der „silberne Artemistempel herstellte und den Künstlern viel zu verdienen gab“, wie in Apostelgeschichte 10,24 berichtet. Nachdem allerdings Paulus in seiner Missionstätigkeit sehr erfolgreich war – laut Apg. 19,10 hörten „alle Bewohner der Provinz Asien (Anm. d. Red.: damals das Gebiet rund um Ephesus in einem Teilgebiet der heutigen Türkei), Juden wie Griechen, das Wort des Herrn“ – bangte Demetrius um sein Geschäft. Er fürchtete wohl: Wenn sich so viele Leute zum neuen Christusglauben bekehrten, würde niemand mehr seine Tempelminiaturen kaufen wollen. Daraufhin rief Demetrius seine Arbeiter zusammen und hielt eine flammende Rede (Apg. 26-27), durch die letztlich „[d]ie ganze Stadt in Aufruhr“ (Apg. 19,29) geriet. Dass Demetrius wegen des von ihm in den Weg geleiteten Aufruhrs den Zorn der herrschenden Römer und eine Anklage wegen Aufruhrs provozierte (Apg 19,34), nahm der Geschäftsmann damals offenbar in den Kauf.
Nun ist es natürlich ein gewagter Vergleich, den antiken Silberschmied Demetrius und den österreichischen Zeitungsmacher Fellner in einen Zusammenhang zu bringen. Doch bei allen Unterschieden ist beiden offenbar gemein, dass sie – wie unzählige andere seit Anbeginn der Geschichte natürlich auch – im Sinne der eigenen Geldbörse dazu bereit sind, auf moralisch fragwürdige Handlungen zu setzen: Setzte Demetrius mit seinen Handlungen das Wohlergehen seiner Landsleute aufs Spiel, gefährden Fellner und die Seinesgleichen mit ihrer Inseratenpublizistik über kurz oder lang die Möglichkeit einer kritischen Öffentlichkeit und damit das Funktionieren der Demokratie. „In der Medienbranche sind Fellners Praktiken ein offenes Geheimnis. Viele erzählen davon hinter vorgehaltener Hand, trauen sich aus Angst vor seinen Methoden aber nicht an die Öffentlichkeit“, heißt es unterdessen in Dossier. Es ist der Rechercheplattform um Chefredakteur Skrabal zu verdanken, dass die Praktiken der Zeitung Österreich nun auch für eine breitere Öffentlichkeit erkennbar sind.