Judas, der Fromme

Ben Becker spielt den vielleicht größten Verräter der Geschichte und das so erfolgreich, dass sein Stück „Ich, Judas" seit zwei Jahren die Kirchen der Republik füllt. Dabei klagt er den Evangelisten Johannes an und verlangt Amnestie für den Jesusverräter. Eine Rezension von Anna Lutz
Von Anna Lutz
Ben Becker im Berliner Dom: „Zweifeln, Fragen stellen, nachdenken“

Ben Becker spuckt und wütet, stampft auf den Boden, fällt auf die Knie, steht wieder auf, rauft sich das Haar, nur um schließlich zu Füßen Jesu zu fallen, beladen mit nur einem Wunsch, den er herausbrüllt: „Herr, rette meine Seele!“ Er zieht sich den weiten weißen Ledermantel eng um das ebenfalls weiße Hemd, schließt die Arme um sich selbst und wimmert, vor ihm der Gekreuzigte, hinter ihm hunderte Zuschauer im ausverkauften Berliner Dom. Es ist nicht seine eigene Seele, für die der berühmte deutsche Schauspieler hier im Hilfe bittet. Es ist die des wohl bekanntesten Verräters der Geschichte: Judas Ischariot.

An diesem Abend steht Becker mit seinem Stück „Ich, Judas“ im Dom hinter und vor der Kanzel. Er liest aus Amos Oz‘ Buch „Judas“ und zitiert Walter Jens‘ Werk „Ich, ein Jud: Verteidigungsrede des Judas Ischarioth“. Beide Texte bemühen sich darum, das, was nicht nur Christen seit 2.000 Jahren glauben, auf den Kopf zu stellen: Judas war kein Verräter, so der Inhalt, er war gar der frömmste unter den Jüngern und wird bis heute missverstanden.

„Das nenne ich mal Feindesliebe, Herr Evangelist!“

Eine lange Tafel ziert an jenem Abend den Chorraum der Kirche. Auf ihm liegen zwei Bibeln und ein weißes Laken, das wohl an das Turiner Grabtuch erinnern soll. Die restliche Ausstattung ist auch da, wenn Ben Becker nicht auftritt: Der Gekreuzigte, ganz aus weißem Stein, blickt ins Mittelschiff, links und rechts von ihm sind auch die Jünger in Stein gehauen. Über allem thronen die vier Evangelisten. Matthäus, Johannes, Markus und Lukas blicken von der Kirchendecke auf die Besucher herab. Die aufwändig gearbeiteten Mosaike sind in ihrer Quadratmeterzahl jeweils so groß wie manche Studentenbude. Becker, an diesem Abend Judas, hat es mit Walter Jens‘ Worten besonders auf einen dieser vier abgesehen. „Das nenne ich mal Feindesliebe, Herr Evangelist!“, schleudert er Johannes entgegen, in dessen Schriften Judas als „Teufel“ und „Sohn des Verderbens“ bezeichnet wird.

Dann holt der Tobende aus, um sich zu verteidigen: „Könnt ihr euch wirklich einen Gott vorstellen, der um der Erfüllung seines Plans willen einen Menschen zur Sünde verurteilt?“, fragt er ins Publikum. Nein, der Verrat sei Gottes Wille gewesen, ebenso wie die Kreuzigung, denn ohne sie bliebe die Erlösung aus. So fromm sei dieser Judas gewesen, dass er sogar bereit war, zum Attentäter zu werden. „Jesus ist nichts ohne Judas“, lautet die unumgängliche Schlussfolgerung dieses Plädoyers für die Amnestie des mutmaßlichen Täters. Falsch gedeutet habe man sein Tun durch die Geschichte hindurch, ein Missverständnis, das zu Luthers Antisemitismus und Hitlers Gaskammern geführt habe. Nun aber verlangt dieser Judas endlich den Respekt, der ihm für sein Opfer gebührt.

Ausverkaufte Kirchen

Ben Becker und das Wort Gottes – das ist eine Erfolgsgeschichte. Bereits 2008 ging der Schauspieler mit der Lesereihe „Die Bibel – eine gesprochene Symphonie“ auf Tour. Gemeinsam mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg nahm er ein Hörbuch dazu auf, das nicht nur in Kirchengemeinden Interesse fand. In einem Interview mit der Bild am Sonntag sagte er damals: „Ich will weder mich noch andere bekehren! Es ist nicht mein Interesse, verlorene Schafe in die Kirche zurückzutreiben.“ Doch durch das Projekt sei er Gott nähergekommen. „In den letzten fünf Wochen habe ich mit dem lieben Gott kommuniziert, er ist jetzt mein Freund!“

2015 brachte Becker erstmals „Ich, Judas“ auf die Bühne. Die Vorführung war derart stark nachgefragt, dass sich daraus eine Tournee und schließlich mehrere Verlängerungen ergaben, sodass das Stück mittlerweile seit zwei Jahren erfolgreich läuft. Alle Berliner Termine im März waren ausverkauft, ähnlich ist es in anderen deutschen Städten.

Bibel mit Pathos

Unumstritten ist wohl, dass Ben Becker den biblischen Stoff für sich entdeckt hat. Er fasziniert ihn und Becker wiederum versteht es, das geschriebene Wort mit seiner unverkennbaren Bassstimme zu beleben. So geschieht es auch im Berliner Dom, als Becker, ganz ungewohnt mit Oberlippenbart und älter wirkend, als erwartet, immer wieder biblische Originalpassagen vorträgt. Diese Lesungen folgen keiner Vortragslehrstunde. Becker betont jedes Wort als wäre es sein letztes. Selbst Präpositionen und Personalpronomen klingen bei ihm so unheilsschwanger, als stecke in ihnen eine Prophetie auf den Weltuntergang.

Erstaunlicherweise wirkt das erhaben statt übertrieben. Die stehenden Ovationen am Ende der Vorführung geben Becker recht: Wer die Bibel vorliest, darf sich im Pathos suhlen, wann, wenn nicht bei diesem Stoff. Die Orgeltöne am Beginn und Ende des Stücks tragen das Ihre dazu bei. Auch Walter Jens und Amos Oz steht Beckers Stimme gut und nach dieser zweistündigen Ein-Mann-Performance ist wohl jedem Zuschauer klar, dass dieser Ben Becker eben nicht durch seine Skandälchen berühmt geworden ist, sondern in erster Linie und nach wie vor ein großer Schauspieler ist.

Zweifeln, Fragen stellen, nachdenken

„Zweifeln, Fragen stellen, nachdenken – das kann ich doch wohl verlangen!“, fordert Becker an einer Stelle des Stücks vom Publikum. Es ist, als formuliere der Künstler hier auch die Idee hinter seiner Vorführung. Es ist das Gedankenspiel mit heiligen Texten, mit denen Gläubige es so gewohnt sind, umzugehen, dass sie das Denken gelegentlich unterlassen. Was wäre, wenn alles ganz anders gemeint war? Was, wenn Judas ein Heiliger sein könnte und Goliath ein Unschuldslamm? Was, wenn der gute Johannes ein Heuchler war und David am Ende nicht Gottes Gunst erwarb?

Perspektivwechsel können den Horizont erweitern, solange man sie nicht mit dem wirklichen biblischen Zeugnis verwechselt. Hier muss jeder selbst entscheiden, ob er sich dem Gedankenspiel des Ben Becker, der hier auch Regie führte, aussetzen möchte. Kritisch fragen darf man, ob eine Kirche, die ja eigentlich als Verteidigerin der biblischen Tradition fungiert, der richtige Ort für solcherlei Kunst ist. Wer das Original nicht kennt, bleibt nach „Ich, Judas“ vielleicht eher verwirrt als bereichert zurück. Wer es kennt, darf sich neue Fragen über die Gerechtigkeit Gottes stellen, die den Glauben am Ende hoffentlich stärken. Denn „Zweifeln, Fragen stellen, nachdenken“ – das ist erlaubt. Auch und erst recht in Gotteshäusern. (pro)

Ben Becker ist mit „Ich, Judas“im März, April, September, Oktober und November noch in verschiedenen deutschen Städten zu sehen.

Von: al

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