Kommentar

Joe Bidens Kandidatur: Alles hat seine Zeit

Die Zeit des US-Präsidenten ist abgelaufen, auch immer mehr Demokraten realisieren das. Nur einer nicht: Joe Biden selbst. Was das mit alttestamentlicher Weisheitsliteratur zu tun hat.
Von Nicolai Franz
Joe Biden an seinem Schreibtisch im Oval Office

Das Buch des Predigers ist ein zeitloser Klassiker. Vielleicht liegt das gerade auch daran, dass die Verse, die der Prediger im Laufe seines Lebens gesammelt hat, so einleuchtend, so einfach, fast banal sind, dass man sie sich umso mehr verinnerlichen sollte. 

Die alttestamentliche Weisheitsliteratur ist eine Art best of common sense, eine Sammlung allgemeingültiger Ratschläge. Sie verzichtet auf komplexe Konzepte zur Selbstoptimierung, sie will nicht mit Kommunikationsstrategien blenden und manipulieren, wie es heute Glücksratgeber und Influencer auf ihren Kanälen tun. Ihre Kraft besteht – freilich neben der göttlichen Inspiration – darin, dass ihre Ratschläge auch über Grenzen von Zeit und Kultur hinweg einleuchten. Gerade, weil sie so schlicht sind. Wenn aber alles so selbstverständlich ist, warum braucht es diese „Weisheit“ dann überhaupt noch?

Der Mensch tickt anders

Die Antwort darauf ist genauso einfach wie die Ratschläge selbst. Da ist zum Beispiel dieser eine kurze Satz, der nur aus vier Wörtern besteht: „Alles hat seine Zeit.“ Das gilt für alles, weiß der Prediger: Fürs Geborenwerden, fürs Sterben, pflanzen, ernten und so weiter. Alles hat eben seine Zeit. Niemand würde diese simple Erkenntnis jemals in Frage stellen – in der Theorie. In der Praxis sieht es anders aus.

Denn der Mensch tickt nun mal anders. Er macht Dinge, für die eigentlich gerade keine Zeit ist. Er überlädt sich, will zu viel – oder schiebt Dinge auf, für die gerade jetzt die richtige Zeit wäre. Wenn er ehrlich zu sich selbst ist, muss er zugeben, dass er nicht die richtigen Konsequenzen aus der Erkenntnis zieht, dass alles seine Zeit hat.

Das betrifft die Kleinen und die Großen. Der Prediger, Salomo, war selbst König. Er musste Entscheidungen treffen, und zwar zur richtigen Zeit. Nicht zu früh, aber auch nicht zu spät. Denn alles hat seine Zeit.

Wie aktuell diese biblische Erkenntnis ist, zeigt ein Blick in die USA. Joe Biden würde höchstwahrscheinlich zustimmen, dass alles im Leben seine Zeit hat. Er hat sein Leben viele Entscheidungen zur rechten Zeit getroffen. 

Ein Präsident muss gesund und vital sein

Eine davon im Jahr 2015. Der damalige Vizepräsident hätte durchaus Chancen gehabt, sich erfolgreich um die Nachfolge von US-Präsident Barack Obama zu bewerben. Doch dann kam es anders. Sein Sohn Beau starb an einem Hirntumor. Joe Biden entschied sich gegen eine Kandidatur mit einer bemerkenswerten Begründung: Das Zeitfenster für eine „realistische Präsidentschaftskampagne“ habe sich geschlossen. Priorität habe für ihn die Trauerarbeit in der Familie. Für eine Kandidatur war nun nicht die Zeit.

Damals war er bereits 72 Jahre alt. Nun, gegen Ende seiner ersten Amtszeit als Präsident, ist er bereits 81. Das alleine ist noch kein hinreichender Grund, um auf eine erneute Kandidatur zu verzichten. Es gibt vielleicht auch 81-Jährige, die gesund und vital genug sind, um das mächtigste Land der Welt zu führen. Joe Biden gehört nicht dazu. 

Das ist nicht erst seit seinem völlig verkorksten TV-Duell mit Trump klar. Wer Bidens Auftritte in den vergangenen Monaten verfolgt hat, erlebte einen Greis, tatterig, unkonzentriert, lallend, immer wieder den Faden verlierend. Beim TV-Duell, also ohne Teleprompter und Pressesprecher, wurde auch vielen seiner stärksten Unterstützer klar, dass hier ein anderer Joe Biden debattierte als noch vor vier Jahren. Früher joggte er stramm zum Rednerpult, jetzt tapst er vorsichtig wie in Zeitlupe, musste beim Treppensteigen sogar noch von seiner Frau Jill gestützt werden.

Zeit für das nächste Kapitel

Immer mehr Demokraten erkennen – öffentlich und nicht öffentlich – dass Joe Biden Platz machen muss. Denn selbst wenn sich das bisher eindeutig auf Trump zeigende Umfragebild ändern sollte, er gewinnen sollte, droht eine Präsidentschaft, in der das Volk dem Staatsoberhaupt beim Dahinsiechen zuschauen muss, so hart das klingt.

Die Menschen in den USA – und darüber hinaus – brauchen einen Präsidenten, auf den sie sich verlassen können. Der mental und körperlich den Eindruck erweckt, der Last seines Amtes gewachsen zu sein. Und zwar auch für weitere vier Jahre. 

Doch so wirkt Biden schon lange nicht mehr. Die Welt sieht einen Mann, dessen Zeit vorbei ist, der Platz machen sollte für einen Nachfolger, dessen Zeit gekommen ist. Immer mehr Demokraten erkennen das. Denn alles hat seine Zeit. Wohl dem, der selbst erkennt, wenn seine Zeit abgelaufen ist und es Zeit für das nächste Kapitel ist, statt an einem Amt zu kleben, bis er gegen seinen Willen herausgetragen wird. Es wäre ein unwürdiges Schauspiel.

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