Auf der Frankfurter Buchmesse haben Experten über den Zustand des Islam diskutiert. Nach Auffassung des Freiburger Islamwissenschaftlers Abdel-Hakim Ourghi steckt die Religion in einer Sinnkrise. Die sei unter anderem erkennbar an den Gewalttaten durch Islamisten oder an der Unterdrückung von Frauen. „Der Islam hat eine Krankheit zur Welt gebracht: den Islamismus. Wir Muslime tragen die volle Verantwortung dafür, dass im Namen der Religion auch Gewalttaten verübt werden und die Islamisten sich auf den Koran berufen“, sagte Ourghi am Sonntag auf einer Diskussionsveranstaltung des Deutschlandfunks im Rahmen der Buchmesse.
Der Islam sei nicht mehr zeitgemäß. Ourghi fordert daher eine humanistische Reform der Religion, eine reflektierende Interpretation des Islam gemäß der Zeit. Dazu hat er im Jahr des Reformationsjubiläums 40 Thesen veröffentlicht. „Es geht um die Bedeutung des Menschen als Individuum in der Religion. Der Mensch soll wieder eine zentrale Rolle einnehmen“, erklärte Ourghi auf Anfrage von pro. „Das Gotteswort ist im Laufe der Jahrhunderte durch die Interpretation des Koran, durch die Exegese, zu einem Menschenwort geworden.“ Viele Muslime lebten wegen der Exegese früherer Gelehrter noch immer im 13. Jahrhundert. Die liberalen Muslime müssten „die Deutungshoheit des Islam den konservativen Muslimen streitig machen“, erklärte Ourghi.
Liberale Muslime wollen wahrgenommen werden
Die „schweigende Mehrheit“ der Muslime sei liberal eingestellt und gehöre keinem der muslimischen Dachverbände an. Ihr gelte es, ein Forum zu bieten, damit sie sich organisieren könne. Derzeit gehören nach Angaben Ourghis nur 15 Prozent der Muslime in Deutschland einem der muslimischen Verbände an. Einschüchterungen und Bedrohungen liberaler Muslime und Moscheegemeinden wertet Ourghi als „ein Zeichen der Angst konservativer Muslime“. Der liberale Islam sei dabei, sich zu organisieren. „Wir möchten wahrgenommen werden“, sagte Ourghi. Es gehe dabei nicht um Zahlen, sondern um die Werte, die liberale Muslime vertreten. „Werte, die mit dem westlichen Kontext vereinbar sind. Die Freiheit des Menschen. Keine Angst vor der Kritik. Gleichberechtigung der Frau.“
Zudem müsse jedem freigestellt sein, seine Religion ohne Angst zu wechseln. „Der Mensch muss den Mut haben, sich zu befreien von dieser kollektiven Last – der Angst vor der Kritik“, sagte Ourghi im Gespräch mit pro. Wie weit aber darf die Kritik an der Religion gehen? „Im Koran sagt der Prophet über sich selbst, dass er ein Mensch gewesen ist“, erklärt Ourghi, und weiter: „Wir haben es mit einem historischen Propheten zu tun, dessen Aufgabe die Verkündigung der Religion war. Sein politisches Handeln ist zu kritisieren.“ Der Prophet werde im Koran selber mehrmal kritisiert. „Wir brauchen den zweiten, symbolischen Tod des Propheten. Der Prophet regiert aus seinem Grab. Wir Muslime brauchen keine Angst zu haben, wenn wir den Propheten Mohammed kritisieren“, sagte der Isalmwissenschaftler.
Ourghi fordert, die Finanzierung der konservativen muslimischen Dachverbände aus dem Ausland zu unterbinden. Er erkennt in ihnen „einen Hinderungsgrund für die Integration der Muslime“, deren Erziehung mit dem deutschen Schulsystem konkurriere. Trotzdem arbeite die Politik mit den Dachverbänden zusammen. „Mir ist das rätselhaft.“ Ourghi fordert: „Der Import der Imame aus dem Ausland muss sofort gestoppt werden.“ In türkischen Moscheen predigten und lehrten Imame, „die von unserer Sozialisation in Deutschland keine Ahnung haben, die nicht einmal Deutsch sprechen.“ Diese hätten dann hier die Aufgabe, den Kindern in einer Art Religionsunterricht eine nationale, türkische Erziehung zu vermitteln. Ourghi wünscht mehr Engagement vom Staat bei der Ausbildung von Imamen. „Die Ausbildung der Imame muss in Deutschland an den Hochschulen eingeführt werden.“ Dazu benötige es staatliche Hilfe. Er fordert zudem eine „Islamsteuer“ für Muslime zur Finanzierung der Imam-Ausbildung in Deutschland.
Blume: Kein „Staatsislam“
Das sieht der Religionswissenschaftler Michael Blume anders. Er hält nichts von einem steuerfinanzierten Staatsislam. Dadurch würde das Modell aus der Türkei kopiert. „Wir brauchen hier keine Diyanet (türkische Religionsbehörde; Anm. d. Red.). In Deutschland sind Staat und Religion getrennt“, sagte Blume bei der Diskussion. Der Staat dürfe auch nicht bestimmen, wer Muslim sei und wer nicht. Das müssten die Gläubigen selber entscheiden. Der deutsche Staat könne zwar eine Brücke schlagen und helfen, allerdings müssten sich die Muslime selber organisieren. „Wenn sie das nicht tun, gibt es auch keine Grundlage für islamische Theologie oder islamische Religionspädagogik.“
Blume warnte davor, „dass hier nicht durch die Hintertür ein Staatsislam“ eingeführt werde. „Allein der Staat kann die Probleme des Islam in unserem freiheitlichen System nicht lösen. Das ist eure Verantwortung“, sagte Blume.
Von: pro