pro: In Frankreich wurde ein Lehrer enthauptet, weil er im Unterricht Mohammed-Karikaturen zeigte. Der Islam scheint ein Problem mit Kritik und Meinungsfreiheit zu haben, wenn sie sich gegen ihn richten – oder ist das eine Art Missverständnis seitens einiger Gläubiger?
Christine Schirrmacher: Der Islam ist Mehrheitsreligion in Ländern, in denen es wenig Meinungs- und keine Pressefreiheit gibt und Muhammad-Karikaturen ein absolutes No-Go wären. Das ist keine Rechtfertigung für die Muslime, die sich an Gewalt und Ausschreitungen beteiligen oder sie befürworten. Das ist ein deutliches Anzeichen einer radikalen Gesinnung.
Ein grausamer Mord wegen Karikaturen, Boykottaufrufe und Demonstrationen gegen Frankreich und seinen Präsidenten Emmanuel Macron – diese Reaktionen haben mehr mit Emotion als mit sachlicher, kritischer Auseinandersetzung zu tun. Woher kommt das?
Viele Demonstranten, die wegen der Karikaturen auf die Straße gingen, mögen von Emotionen gesteuert sein. Sie sind jedoch von sehr kühl kalkulierenden Hintermännern des radikalen Islamismus aufgehetzt worden. Sie rufen ihre Anhänger zu Mord und Totschlag auf und gerieren sich als Verteidiger des Islam und der Ehre Muhammads. Sie kalkulieren eiskalt, wie die westlichen Gesellschaften am nachhaltigsten zu erschüttern und zu spalten sind.
Wie bewerten Sie es, dass Recep Tayyip Erdogan als Staatsoberhaupt der Türkei eine diplomatische Eskalation provozierte wegen der Karikaturen und Macrons Verteidigung der Meinungsfreiheit?
Keiner kann wohl sagen, ob der türkische Präsident aus eigener Überzeugung so gehandelt hat. Für eine schlüssigere Erklärung halte ich die Annahme, dass sein Handeln im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Türkei zu sehen ist und dem Versuch, innenpolitisch mit dieser „harten Linie“ zu punkten. Gleichzeitig versucht Erdogan seit Beginn des Syrien-Krieges durch Provokationen einen Platz am Tisch der wichtigsten Player des Nahen Ostens einzunehmen, vor allem Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate – und in mancher Beziehung Russland.
Scheich Ahmad al-Tayyeb, der als Großimam der Al-Azhar-Moschee in Kairo ein führender Geistlicher des Islam ist, hat den Anschlag auf den Lehrer Samuel Paty bei einem Friedenstreffen im Vatikan verurteilt. Wie glaubwürdig sind solche Äußerungen?
Ich kann mir gut vorstellen, dass Scheich Ahmad al-Tayyeb diesen Anschlag für verabscheuenswürdig hält. Ein Grund mag darin liegen, dass extremistisch-islamistische Kreise nur selten von ausgebildeten Theologen angeführt werden. Wenn solche Personen mit einigen Koranversen in der Hand zum Dschihad gegen die Ungläubigen rufen, hält das ein Azhar-Gelehrter per se für falsch und unberechtigt. Das heißt aber nicht, dass sich die Al-Azhar – die größte und vermutlich einflussreichste theologische Lehrstätte im ganzen Nahen Osten – von der absoluten Gültigkeit des Vorbilds Muhammads distanzieren würde, der selbst Kriege im Namen des Islam geführt hat.
Welchen Einfluss hat er damit tatsächlich auf die muslimischen Gemeinschaften in den verschiedenen Ländern?
Unter sunnitischen Theologen ist Al-Tayyebs Einfluss sicher nicht unerheblich, aber das sind, wie gesagt, nicht die Führer oder Ideengeber der extremistischen Bewegungen. Allerdings gibt es auch theologisch gebildete Extremisten: Diese sind der Meinung, Theologen in Staatsdiensten – was für die Al-Azhar ja zutrifft – verraten den Islam und kümmern sich nicht um die Verlautbarungen der Gelehrten.
Bei Anschlägen wie denen in Frankreich, kürzlich in Dresden oder jetzt in Wien kommt immer wieder die Frage auf, ob diese Art der Gewalt im Islam als Religion angelegt ist oder ob die Religion hier missbraucht wird. Was sagen Sie dazu?
Man kann aus dem Koran und der islamischen Überlieferung eine Theologie des Friedens und eine Theologie der Gewalt ableiten. Die meisten Muslime wählen die Theologie des Friedens. Aber die islamische Mainstream-Theologie hat es bisher versäumt, sich von jeder Berechtigung zur Gewaltausübung im Namen des Islam zu distanzieren, vom kämpferischen Vorbilds Muhammads und von der Theologie der berechtigten Kriegsführung – auch wenn diese auf wenige Fälle eingeschränkt ist.
Sie sind Mitunterzeichnerin eines Aufrufs in der Tageszeitung Die Welt und fordern darin, sich den Problemen eines Einwanderungslandes zu stellen und gegen religiösen Extremismus vorzugehen. Die Warnung vor dem politischen Islam und muslimisch-migrantischen Parallelgesellschaften in deutschen Städten ist nicht neu. Was hat Sie – abgesehen von den jüngsten Attentaten – zu diesem Aufruf veranlasst?
Meine langjährige Sorge, dass der politische Islam, der nicht zu Gewalt aufruft, hinsichtlich seiner Gefährlichkeit völlig unterschätzt wird. Wir schauen in Deutschland fast ausschließlich auf das Phänomen der Gewalt; sogar bei den Sicherheitsbehörden ist das der Fall. Das islamistische Weltbild ist aber der Nährboden für die Anschläge. Islamisten in Nadelstreifen, die sich in Politik und Gesellschaft engagieren, wie etwa extremistische Mitglieder der Islam-Verbände, werden nicht als politische Extremisten wahrgenommen. Aber auch Islamisten ohne Gewaltaffinität wollen eine „islamische Ordnung“ errichten, indem sie aktiv Integration verhindern, die westliche Gesellschaften in „Gläubige“ und „Ungläubige“ spalten, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit ablehnen und muslimische Jugendliche westlichen Gesellschaften entfremden. Sie nutzen demokratische Strukturen, um die Demokratie auszuhöhlen und letztlich abzuschaffen.
Sie beklagen in dem Aufruf, dass Medien, Politik und Kirche sich zu wenig zu dem Problem äußern. Woran liegt das? Was würden Sie von ihnen an Äußerungen erwarten?
Die Vernachlässigung der Thematik mag in manchen Fällen einem Mangel an Information über die Akteure, Strategien und Netzwerke des nicht gewalttätigen, politischen Islam geschuldet sein. Bei anderen einer Sorge, durch kritische Berichterstattung die Ablehnung von Muslimen in unserer Gesellschaft zu befördern. Wieder andere gehen davon aus, dass Dialog und Begegnung nur dann fruchtbarer sein können, wenn heikle Themen ausgeklammert werden. Benannt werden muss aber auch der erhebliche Druck seitens islamistischer Akteure, die Kritik an Missständen innerhalb der islamischen Gemeinschaft gerne als Islamophobie oder antimuslimischen Rassismus brandmarken; in dieselbe Richtung geht auch die Auffassung mancher Wissenschaftler, dass der Islamismus nicht aus dem Islam hervorgegangen sei, sondern eigentlich nur eine Reaktion von Muslimen auf die beständige Ausgrenzung und Diskriminierung der Mehrheitsgesellschaft. Dass diese These einer Überprüfung nicht standhält, wird daran deutlich, dass der Islamismus in den islamischen Mehrheitsgesellschaften des Nahen Ostens entstand und von dort nach Europa exportiert wurde.
In Ihrem Aufruf schreiben Sie auch davon, dass die Ideen des politischen Islam bei jungen Menschen zunehmend auf Interesse stoßen. Warum ist das so?
Dafür werden eine Vielzahl von Faktoren genannt, wie etwa Entwurzelung, Identitätskonflikte, Brüche in der Biographie, Erfolglosigkeit in Schule und Beruf, Kleinkriminalität, die zwar in der Rückschau gewisse Erklärungen bieten können, aber weder zwingende noch exklusive Erklärungsmuster sind. Wer also geflüchtet ist, sich halb als Deutscher, halb als Ausländer fühlt, eine Scheidung erlebt hat, gelegentlich mit kleineren Drogendelikten aufgefallen ist, muss keinesfalls dem Islamismus verfallen, Millionen Menschen tun das nicht. Leider gibt es keine absoluten Parameter, an denen wir eine Radikalisierung voraussehen oder auch nur von außen eindeutig erkennen können.
Wie kann man die religiöse Radikalisierung überhaupt in den Griff bekommen?
Es wird viel getan, um der Radikalisierung entgegen zu wirken, wie etwa aufsuchende Stadtteilarbeit, Sozialarbeit mit häufig muslimischen Streetworkern, De-Radikalisierungsprogramme, Seminare an Schulen, Anlauf- und Beratungsstellen für Eltern und Lehrer und manches mehr. Wir stemmen uns dagegen, dennoch sind wir weit entfernt davon, die religiöse Radikalisierung in den „Griff zu bekommen“. Wir brauchen hier auch unbedingt mehr Unterstützung von Moscheen, islamischen Vereinigungen und Imamen – nicht nur, indem Anschläge verurteilt werden, sondern indem etwa Imame mehr mit den Schulen und Behörden zusammenarbeiten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Jonathan Steinert. Christine Schirrmacher hat schriftlich geantwortet.