Herr Voigt, ihre Gemeinde in Hagen hat das Hochwasser hautnah erlebt. Was ist passiert?
Wolfgang Voigt: Wir haben natürlich gemerkt, dass das Wasser der Volme immer weiter steigt. Als das ganze Ausmaß deutlich wurde, haben wir notdürftig versucht, das Gemeindehaus abzudichten und die Fenster zu vernageln. Leider vergeblich, die Wassermenge war zu gewaltig. Zum Glück wurde in Hagen niemand verletzt oder ist gestorben.
Das ist wahrscheinlich der große Unterschied zu den Ereignissen im Ahrtal?
Unser Hochwasser war ja früher als das im Ahrtal. Das Industriegebiet in Hagen mit seinen großen Stahlwerken hat enorme materielle Schäden erlitten, aber es sind keine Personen geschädigt worden. Als Gemeinde hatten wir einen Sachschaden von etwa 2,4 Millionen Euro.
In welchem Moment haben Sie gemerkt, dass das kein normales Unwetter ist?
Der Fluß hat häufig hohe Wasserstände. Wir haben aber gemerkt, dass eine große Wassermenge schnell aus dem Sauerland angeschwemmt wurde. Da war uns klar, dass es heikel werden wird. Wir haben gehofft, dass die Mauer hinter dem Gemeindehaus standhält. Als sie nachgegeben hat, haben wir versucht zu retten, was zu retten war. Aber das war bei der Wassermenge illusorisch.
Was haben Sie als Gemeinde zuerst unternommen?
Unser Hausmeister, der gerade neu eingezogen war, hat mich und andere aus der Gemeinde angerufen. Am Ende stand das Wasser über einen Meter hoch in unserem Gemeindehaus.
Was hatte das für Auswirkungen auf das Gemeindeleben?
Wir hatten ja durch die Pandemie Erfahrungen mit Online-Gottesdiensten. Die haben wir schnell wieder angeboten. Als Gemeindeleiter habe ich gefragt, ob die Gemeinde möchte, dass wir das Haus wieder aufbauen. Da waren wir uns schnell einig. Wir glauben, dass das der Platz ist, wo Gott uns haben möchte.
Gab es genügend junge Leute, die mit anpacken konnten?
Ja. Aber dadurch, dass Hagen keine Universitätsstadt ist, verlassen viele junge Menschen die Stadt oder unsere Gemeinde zum Studium. Diese Energie fehlt natürlich. Andere sind in ihren Berufen enorm eingespannt. Außerdem befinden wir uns insgesamt in einer Zeit, in der vieles infrage gestellt wird.
Wie sieht das lokale Umfeld aus?
Hagen gehört mit 47 Prozent Migranten-Anteil an der Spitze in Nordrhein-Westfalen; vor Bochum und Gelsenkirchen. Die Kommune ist hoch verschuldet. Wer nach Hagen kommt, braucht unsere Fürsorge. Das ist unser Credo.
Wie schnell war dieser Schritt für die Gemeindeleitung klar?
Es war ja schwer abzuschätzen, welche Herausforderungen auf uns zukommen. Es war ein Segen für uns, wie schnell uns andere Gemeinden geholfen haben. Auch der Katastrophenfonds war für uns sehr hilfreich. Wir haben als eine der ersten Gemeinden einen Antrag auf Fluthilfe gestellt. Es war zwar viel Bürokratie damit verbunden. Aber wenn alles gut geht, müssen wir als Gemeinde keinen Kredit aufnehmen.
Was bedeuten 2,4 Millionen Euro Schaden für Ihre Gemeinde?
Der Schaden war nicht versichert. Einige norddeutschen Gemeinden aus unserem Gemeindebund haben uns sehr schnell ganz praktisch geholfen: mit Arbeitseinsätzen, aber auch mit Material und Geld. Auch die Bundeswehr hat im Katastrophengebiet geholfen. Ein Tag nach den Ereignissen war das Wasser schon wieder weg. Dann ging es darum, den Schlamm zu entfernen.
War das Hochwasser ein Reizthema in innengemeindlichen Diskussion?
Unsere Gemeinde ist stark auf Gemeinschaft ausgerichtet. Die Pandemie und das Hochwasser haben uns da zugesetzt. Wir haben begonnen, über theologische Fragen zu streiten. Anstatt die Dinge auszudiskutieren, haben die Menschen die Gemeinde verlassen. Von 420 Mitgliedern haben wir jetzt noch 240.
Und im Blick auf das Hochwasser?
Da gab es keine Kontroversen. Viele waren schockiert, als ich die Frage zum Standort gestellt habe. Für viele war klar, dass wir hier als Gemeinde in einem schwierigen sozialen Umfeld gebraucht werden. Obwohl schon häufiger in unser Gemeindehaus eingebrochen wurde, fühlen wir uns an der richtigen Stelle. Und natürlich kennt jeder Menschen aus seinem Umfeld, die vom Hochwasser betroffen waren.
Wie lebt es sich mit dem Gedanken, dass es immer wieder passieren kann?
So ein Hochwasser soll alle 120 Jahre vorkommen. Die aktuelle Lage zeigt uns, dass es deutlich schneller wieder passieren kann. Der Hochwasserschutz ist Sache der Anrainer und muss von uns finanziert werden. Wir wollen aber aus dem Haus keine Wagenburg machen.
Wie thematisiert man die Geschehnisse im Gemeindeleben und der Seelsorge?
Natürlich haben wir gemeinsam getrauert, aber es gab jetzt keine psychologische Betreuung. Das permanente Leben auf Baustelle fordert uns heraus. Im Winter fehlte mal die Heizung. Menschen in unserer Gemeinde haben fast 100.000 Euro an Eigenleistung erbracht.
Sind die Menschen von der Politik frustriert?
Sagen wir es so. Es wurde von der Politik eine schnelle und unbürokratische Hilfe versprochen. Bis unser Antrag bewilligt war, hat es eineinhalb Jahre gedauert. Natürlich war der Oberbürgermeister hier vor Ort und hat sich erkundigt. Aber das wir uns selbst um den Hochwasserschutz kümmern müssen, ist schon ein Schlag ins Gesicht. Wenn wir einen Zaun um unser Gebäude machen, dann bekommen trotzdem alle Nachbarn nasse Füße.
Machen die Menschen Gott Vorwürfe?
Nein, überhaupt nicht. Wir sind eigentlich nur dankbar, dass nichts weiter passiert ist. Wir haben erste Gottesdienste in den Trümmern gefeiert und nach draußen verlegt. Die Folgen des Schlamms sieht man heute noch an vielen Stellen. Eine Baustelle ist auch mit vielen Chancen verbunden.
Wie meinen Sie das?
Vielleicht müssen wir in manche Dinge gar nicht mehr investieren, weil sich Gemeinde verändert und wir sie nicht mehr brauchen. Wir denken, dass wir in unserem Umfeld an der richtigen Stelle sind. Wir wollen offene Türen für Menschen haben, wo sie Anschluss finden oder ein neues Zuhause.
Was bedeutet das praktisch?
Wir haben uns verschiedene Ansätze überlegt. Wir profitieren von einem sehr gut ausgestatteten Sozialfonds, den ein Hagener Industrieller gestiftet hat. Damit können wir weiterhelfen, weil hier viele Menschen in großer Not sind. Es gab hier 25 Jahre ein Schüler-Café, in dem sich die Gäste ein Frühstück zum Selbstkostenpreis kaufen konnten. Aktuell dürfen wir das Gemeindehaus überhaupt nicht für solche Dinge nutzen, weil hier noch Kabel von der Decke hängen. Auch die Suppenküche des CVJM hat unter dem Hochwasser gelitten.
Wie lange wird es die Baustelle noch geben?
Die energetischen Maßnahmen hängen an einer staatlichen Förderung und müssen bis Ende 2025 fertig sein. Nach zweieinhalb Jahren mit viel Eigenleistung fühlt sich nicht mehr jeder wohl mit dieser Situation. Viele schmerzt der aktuelle Zustand. Für sie fühlt es sich an, als hätten sie ihr Zuhause verloren.
Die Sehnsucht der Menschen nach einem Ende der Baustelle ist also groß?
Ich gebe ihnen ein Beispiel: Wir hatten in einem Gemeinde-Newsletter zwei Wochen vor der Flut geschrieben, dass wir unser Haus entrümpeln wollen. Natürlich nicht auf diese Weise, aber das Hochwasser hat diesen Prozess beschleunigt. Für die Gemeinde war das ein positives Signal für einen Neustart. Je länger die Baustelle jetzt dauert, desto mehr sehnen sich unsere Mitglieder nach dem Ende der Bauarbeiten und einem neuen Zuhause. Viele von ihnen helfen sehr lange und tapfer mit. Aber es ist ein Marathon, der an den Kräften zehrt.
Was wünschen sich ihre Gemeindemitglieder?
Wir stecken in einer Zwickmühle. Wir ringen um theologische Fragen. Aber bei Jesus hat der Mensch immer Vorrang und steht im Mittelpunkt. Das müsste eigentlich dafür sorgen, dass wir Mauern abbauen und für den anderen offen sind.
Vielen Dank für das Gespräch.
Wolfgang Voigt ist als einer von vier gewählten Ältesten geschäftsführender Gemeindeleiter in der Baptisten-Gemeinde Kirche Am Widey. Das heutige Gemeindehaus in der Innenstadt nahe der Volme hat die Gemeinde 1989 bezogen.