PRO: Frau Kopplin, wie würden Sie einem Laien das Thema ihrer Doktorarbeit erklären?
Vanessa Kopplin: Ich beschäftige mich wissenschaftlich damit, in welcher Beziehung Politik und Religion stehen und welchen Einfluss sie aufeinander nehmen. Es gibt Bereiche, da ist das gut sichtbar. Die beiden großen Kirchen zum Beispiel haben ihre Vertretungen in Berlin als Schnittstelle zur Politik. Diese bereiten Empfehlungen vor und veröffentlichen sie. Außerdem gibt es regelmäßige Gespräche zwischen kirchlichen Vertretern und Politikern. Weniger sichtbar ist dagegen die private Ebene und was die Abgeordneten persönlich im Blick auf ihre Religion beschäftigt. Ich wollte zeigen, welchen Einfluss Religion bei individuellen Entscheidungen im Parlament hat.
Sind Ihre Forschungen abgeschlossen?
Ich werde die Arbeit demnächst einreichen und verteidigen. Zudem steht an meiner Universität Basel noch ein Rigorosum an, bei dem ich im gesamten Fach geprüft werde.
Was ist die wichtigste wissenschaftliche Erkenntnis?
Inhaltlich ist es so, dass Religion grundsätzlich weiterhin im christlichen Sinne gedacht wird. Allerdings finden individuelle Aspekte vermehrt Einfluss auf politische Entscheidungen und das parteiübergreifend.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Schwerpunkt meiner Erhebung sind Interviews mit Politkern. Ich habe Vertreter der sozialdemokratischen, christdemokratischen und grünen Parteien in Deutschland, Österreich und der Schweiz befragt. In der Schweiz spielt zudem die SVP als stärkste politische Kraft eine wichtige Rolle. AfD und FDP waren erst mit Beginn meiner Forschungen wieder oder erstmals im Bundestag. Von jeder Partei habe ich vier Abgeordnete befragt. Zwei davon habe ich ausgewählt, weil sie in ihrer Biografie enge Verflechtungen mit religiösen Themen hatten. Zwei weitere Abgeordnete habe ich als Kontrollgruppe zufällig ausgewählt. Es waren jeweils zwei Männer und Frauen jeder Partei. Darüber hinaus habe ich die Debatten zum Thema Sterbehilfe in den drei Parlamenten analysiert.
War es schwierig, Menschen mit religiösem Potenzial zu finden?
Nein. Es gibt viele Politiker mit religiösem Hintergrund. In Deutschland war das sehr leicht. Auf der Internetseite des Deutschen Bundestags geben die Abgeordneten sehr offen Auskunft über ihr religiöses Engagement. In Österreich ist das etwas eingeschränkter und in der Schweiz sind Politiker sehr zurückhaltend. Weil Religion häufig als Privatsache betrachtet wird, musste ich mich hier unter anderem auf Aussagen aus Interviews oder Zeitungsartikeln stützen, die aber ebenfalls rar gesät waren.
Gibt es Gründe für die Zurückhaltung der Schweizer?
Ja, die sind hauptsächlich historischer Natur. 1848 hat die letzte militärische Auseinandersetzung auf Schweizer Boden stattgefunden. Da haben sich reformierte und katholische Kantone bekriegt. Die Befriedung des Konflikts sorgte dafür, dass in der Schweiz bis heute Religion weitgehend Privatsache ist – so zumindest die weitläufige Argumentationslinie. Die wissenschaftliche Arbeit zeigt, dass die Religiosität von Abgeordneten Einfluss auf politisches Verhalten hat. Vielleicht wäre es im Sinne von Transparenz sinnvoller, den Wählern offen über diesen Hintergrund zu berichten und ihn zu thematisieren.
Das ist in den beiden anderen Ländern anders?
In Deutschland sprechen Politiker sehr offen über ihre Religionszugehörigkeit. Angela Merkel hatte nie ein Problem damit, als Pastoren-Tochter bezeichnet zu werden oder dies zu thematisieren. In Österreich ist das Bedürfnis, öffentlich über Religion zu sprechen, weniger stark vorhanden. Die Existenz der Religion wird viel mehr vorausgesetzt. Der Katholizismus spielt einfach in vielen politischen und zivilgesellschaftlichen Aspekten weiterhin eine große Rolle.
Wie offen waren ihre Gesprächspartner in Bezug auf ihre Religiosität?
Ich habe einen biografischen Einstieg in das Interview gewählt. Dadurch kamen meine Gesprächspartner schnell ins Erzählen und ich habe viele sehr private Einblicke erhalten. Das war positiv für die anschließende Auswertung.
Wie hat sich die Parteizugehörigkeit ausgewirkt?
In Deutschland lagen Union und SPD in vielen Punkten recht nahe beieinander. Einige Befragte fragen Gott oder eine höhere Instanz vor politischen Entscheidungen. Abgeordnete von CDU und CSU verwenden häufig Metaphern, in denen sie Religion als Leitplanke oder sich selbst als Werkzeug Gottes bezeichnen. Eine Gesprächspartnerin nimmt regelmäßig Kontakt zu einer verstorbenen Verwandten auf, um mit ihr die Entscheidung zu „besprechen“. Eine SPD-Politikerin hat gesagt, sie habe Religion mit der Muttermilch aufgesogen. Das präge bis heute ihre Haltung und Entscheidungen.
Für viele ist das ein implizites Wissen, das zwar vorhanden, aber nicht allen wirklich bewusst ist. Die SPD- und CDU-Politiker waren alle Kirchenmitglieder, bei den Grünen war es nur eine Person. Trotzdem würde ich alle von ihnen als religiös bezeichnen. Zu erwarten war sicher auch die deutlich liberale Position der Grünen bei Fragen der Sterbehilfe. Die beiden anderen Parteien befanden sich da eher auf Linie der beiden Kirchen.
Gab es neben der Sterbehilfe weitere Themen, bei denen der Glaube eine Rolle spielte?
Ja, das waren natürlich in besonderem Maße ethische Fragen. Neben der Sterbehilfe betrifft dies auch die Präimplantationsdiagnostik oder zuletzt das Werbeverbot zur Abtreibung. Das sind die klassischen Themenfelder, in denen sich religiöse Abgeordnete über Parteigrenzen hinweg organisieren und Partei- und Fraktionsgrenzen keine Rolle spielen. Das verdeutlicht, dass solche Abstimmungen sehr private Entscheidungen sind. Auch in den parlamentarischen Debatten thematisieren Abgeordnete ihre religiöse Prägung. Manche verweisen auch auf die tagesaktuelle Losung und dass sie mit ihren Gedanken daran ins Parlament gehen. Das zeigt, dass dies ihre Entscheidungen prägt.
Wie wichtig ist Lobbyismus, um sich in religiösen Fragen zu entscheiden?
Lobbyismus ist nichts per se Negatives. Viele verknüpfen damit oft undurchsichtige wirtschaftliche Interessen. Das gibt es natürlich auch. In Berlin haben die beiden Kirchen ihre politischen Interessenvertretungen. Wir wissen nicht genau, wie oft die Prälaten dort zu Hinterzimmer-Gesprächen einladen, um kirchliche Themen zu diskutieren. Es ist aus meiner Sicht nichts Schlechtes, wenn verschiedene Akteure ihre Interessen in den politischen Diskurs einbringen. Bisher weniger bekannt war der individuelle Aspekt, der eine tragende Rolle bei diesen ethischen Entscheidungen spielt. Ich finde das wichtig. Es gibt nämlich auch Auskunft darüber, wie politischen Entscheidungen zustande kommen. Das wurde bisher nicht aufgezeigt.
Würden Sie sich von der Kirche bei Hinterzimmer-Gesprächen mehr Zurückhaltung wünschen?
Ich möchte das nicht bewerten. Kirchen sind einer von vielen Lobbyisten im politischen System und das ist natürlich ihr gutes Recht. Aber mangelnde Transparenz schürt auch Unsicherheiten. Die Stellungnahmen der Kirchen weisen darauf hin, aber vielleicht könnten die Kirchen noch transparenter werden. Vermutlich möchten viele Politiker das nicht. Aber mich interessiert das aus wissenschaftlicher Perspektive stark.
Was war denn für Sie die überraschendste Erkenntnis Ihrer Forschung?
Es ist davon auszugehen, dass jeder Politiker in seinem Leben bereits Kontakt mit Religion hatte. In Deutschland, Österreich und der Schweiz betrifft es intensiver das Christentum. Es ist illusorisch anzunehmen, dass diese Erfahrung neben vielen anderen nicht das Handeln einer Person beeinflusst oder prägt. Insofern war das Ergebnis der Arbeit zu erwarten. Trotzdem war die dargelegte Erkenntnis noch einmal sehr wichtig.
Schwindet oder wächst denn insgesamt der Einfluss der Religion auf die Politik?
Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil es kaum zu quantifizieren ist. Religiosität ist etwas Persönliches. Das macht es ausgesprochen schwierig. Ich bin eher Anhängerin der Individualisierungs- als der Säkularisierungthese. Deswegen gehe ich davon aus, dass Religion nicht verschwinden wird, sondern ihre Gestalt und ihr Raum sich verändern. Deswegen ist die private Ebene so wichtig. Wenn Religion institutionell weniger stark ausgeprägt ist, Religiosität aber bestehen bleibt, dann klammern wir einen wichtigen Faktor bei der Betrachtung des Verhältnisses von Politik und Religion aus. Wir dürfen uns nicht nur auf die Religionsgemeinschaften selbst konzentrieren.
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Haben Sie Unterschiede zwischen den großen Kirchen und den Freikirchen festgestellt?
Nein, da war nichts sichtbar. In Deutschland fühlen sich die Politiker mehrheitlich der katholischen und der evangelischen Kirche zugehörig. In der Schweiz nehmen die Freikirchen zusätzlich einen größeren Raum ein. Trotzdem gibt es keine großen konfessionellen Unterschiede.
Welche weiteren wissenschaftlichen Schritte wünschen Sie sich im Blick auf das Thema?
Das Themenfeld Politik und Religion bietet viele Möglichkeiten der Forschung. Zum einen können meine Ergebnisse noch einmal mit quantitativen Methoden untersucht werden. Spannend wäre es, sich religiöse Verbände außerhalb der beiden großen Kirchen und ihren Einfluss auf die politischen Prozesse anzuschauen oder, wie wichtig Pastoren vor Ort für die eigene religiöse Entwicklung sind. Es gibt noch viel aufzuspüren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Vanessa Kopplin hat im Bachelor Politik- und Religionswissenschaften studiert. Ihren Master hat sie dann in Politik und im Studiengang „Religion im kulturellen Kontext“ absolviert. Universitäre Stationen waren Hannover, Prag, Basel, Bochum und jetzt Zürich.