Von Christiane Schilling-Leuckhardt
Ein schmaler, unscheinbarer Weg führt von den stark befahrenen Fernverkehrsstraßen an einen ungewöhnlichen Ort: Das Gethsemanekloster im niedersächsischen Goslar ist ein Ort der Stille. Wer hierher kommt, ist eingeladen, den Alltag mit all seiner Hektik hinter sich zu lassen und sich auf einen klösterlichen Lebensrhythmus einzustellen. Damit das gelingt, gibt es für Besucher gewisse Regeln. Mobiltelefon, Laptop, Fernseher, Radio oder mp3-Player sind tabu. Die Brüder selbst sind telefonisch nur an vier Tagen für etwa drei Stunden erreichbar – sie führen ein kontemplatives, aber keineswegs weltfremdes Leben.
Für manch einen scheint solch ein Leben kaum vorstellbar oder gar beängstigend, bestimmen doch die Medien den Alltag durch und durch. Aus vielen Bereichen sind sie nicht mehr wegzudenken. Der neueste Schrei beispielsweise heißt „Twittern“ (nach dem englischen Wort für Zwitschern benannt), bei dem Leute aus aller Welt sich rund um die Uhr gegenseitig in aller Kürze über das Internet oder per sms mitteilen, was sie gerade machen. Doch immer mehr Menschen sind der Reizüberflutung der Medien- und Informationsgesellschaft überdrüssig, ständig „up to date“ zu sein, mit Bildern, Informationen, Geräuschen, unerwünschter Musik zugeschüttet und unterhalten zu werden oder ständig erreichbar sein zu müssen. Solch ein Lebensstil macht auf Dauer krank. Burnout-Syndrom, Schlafstörungen, Tinnitus oder Hörsturz sind typische Krankheiten unserer Zeit. Zum „Aktionstag gegen Lärm“, der am 25. April stattfand, wurden besorgniserregende Zahlen veröffentlicht: Laut der Deutschen Gesellschaft für Akustik hat jeder vierte Jugendliche in Deutschland Hörschäden und drei Prozent der Jugendlichen tragen heute schon ein Hörgerät – unter anderem Auswirkungen von zu lauter Musik über Kopfhörer.
Im Gethsemanekloster kommen Menschen oft erschöpft an. Sie suchen Ruhe und Erholung für Leib, Geist und Seele. Oft hätten sie schlicht ein Schlafbedürfnis und seien körperlich strapaziert, sagt Bruder Dr. Uwe Stegelmann, der das Kloster mit zwei weiteren Brüdern und ehrenamtlichen Helfern leitet. „Die technischen Möglichkeiten und die mediale Zivilisation überfordern den Menschen psychisch und geistlich. Irgendwann kann er nicht mehr. Er kommt aus dem Gleichgewicht.“
Ähnlich äußerte sich Bruder Franziskus Joest von der Jesusbruderschaft Gnadenthal. „Das Lebenstempo hat sich in den vergangenen Jahren erhöht. Ständig ist der Mensch Reizen ausgesetzt und vor Entscheidungen gestellt.“ Und tatsächlich: Britische Wissenschaftler etwa fanden kürzlich heraus, dass die Menschen weltweit immer schneller durch die Straßen hetzen. Kein Wunder, dass das Bedürfnis nach Innehalten, nach Ruhe und nach Verzicht auf Nachrichten und zahllose Meldungen, die heute in der Zeitung stehen und morgen schon wieder veraltet sind, gestiegen ist. Nach Gnadenthal kommen jährlich rund 3.000 Menschen, um unter Anleitung geistliche Übungen einzuüben, die schon die alten Mönche praktizierten: Schweigen, Gebet, Stille, Fasten, Körperübungen. Im Gethsemanekloster sind es im Jahr auch zwischen 3.000 und 4.000 Besucher als Einzelgäste oder in Gruppen. Viele von ihnen kommen aus der Kirche, sind hauptamtliche Mitarbeiter, aber auch Suchende, die ihren Glauben vertiefen wollen bis hin zu Menschen, die einfach eine Auszeit brauchen. Männer wie Frauen, Jüngere wie Ältere aus nahezu allen Berufsgruppen merken, dass Entschleunigung wichtig ist. „Das normale Berufsleben ist mit unheimlich viel Hektik verbunden. Man muss ihr etwas entgegensetzen, das Leben und sich selbst einmal anders erfahren. Man ist nicht nur funktionierender, sondern auch empfangender Mensch. Diese Erfahrung macht man im Schweigen“, meint Bruder Franziskus. Eine Teilnehmerin von Einkehrtagen, die diese Form von Erholung schon vor Jahren für sich entdeckt hat, berichtete begeistert: „Schweigen ist für mich etwas sehr Schönes. Ich liebe es, auch einmal ohne die neuesten Informationen zu sein. Ich habe das als heilsam erfahren.“
Mittlerweile gibt es vielfältige Angebote von evangelischen und katholischen Klöstern und Stille- oder Einkehrhäusern, die gestressten Zeitgenossen die Möglichkeit bieten, einige Tage, Wochen oder sogar Monate das monastische Leben zu teilen. Der Tagesablauf gestaltet sich dabei oft ähnlich und orientiert sich an der Natur, und nicht an den Breaking News. Morgens, mittags und abends finden so genannte Tageszeitengebete statt, es gibt Einführungen in die Bibel, Impulse zum Nachdenken und fürs Gebet. Geistliche Begleitung in Form von Gesprächen gehört ebenso dazu wie Zeiten ganz ohne Worte.
Flucht vor der Realität
„Wer die Stille sucht, muss die Konfrontation mit sich selbst aushalten“, weiß Bruder Uwe. Scheinbar kommt diese Fähigkeit mehr und mehr Menschen abhanden. In der Internetwelt „Second Life“ („Zweites Leben“) zum Beispiel melden sich täglich neue Mitglieder an, die sich im Netz in Form einer virtuellen Spielfigur, eines so genannten „Avatar“, eine zweite Identität aufbauen und so der Beschäftigung mit der eigenen Realität entfliehen. Schätzungen des Erfinders dieser künstlichen Welt, Philip Rosedale, zufolge werden in fünf Jahren mehr als die Hälfte aller Menschen eine zweite Identität im Internet haben. „Zahlreiche Menschen leben so, dass jedes Gefühl der Leere vollgestopft wird. Wir fliehen ins Internet, können ins Kino gehen oder auf eine Party“. Doch all das führe zu Zerstreuung, erklärt Bruder Uwe weiter.
Auch Bruder Franziskus aus Gnadenthal gibt zu bedenken: „Es ist die Fülle und die Vielfalt an Eindrücken und Informationen, die man nicht verarbeiten kann. Man ist gezwungen auszuwählen. Manche Menschen haben immer das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie es nicht jetzt und sofort haben. Sie können nicht mehr entscheiden, was das Wesentliche ist, die Dinge können nicht mehr sortiert werden.“ Ein Beispiel führte er an: „Wenn ein Besucher hier in die Stille geht und dann in der Buchhandlung wahllos fünf Bücher durchblättert, was hat er dann in sich aufgenommen?“ Er vergleicht dies mit dem Zappen beim Fernsehen. Mit der Aufnahme zu vieler Informationen gehe eine schwindende Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung einher. An uns Menschen seien hohe Anforderungen bezüglich der eigenen Disziplin und der Auswahlfähigkeit gestellt. Doch sich ein Ziel zu setzen, vorher auszuwählen, das falle vielen schwer.
Bruder Franziskus empfiehlt, sich Zeiten der Stille im Alltag auszusparen, sich etwas vorzunehmen und sich Gewohnheiten anzueignen. „Das heißt, dass ich in einer bestimmten Zeit in meiner Bibel lese und dann eben nicht die Morgennachrichten höre.“ Er spricht sich für einen bewussten Umgang mit den Medien aus. Einen Film sollte man sich zum Beispiel vorher aussuchen und nicht wahllos von einem Sender zum anderen springen. Sich vorher festzulegen, unterstütze zudem die Kommunikation, etwa sich in der Familie zu einigen, was angeschaut wird. Zudem rät er, einen Film oder eine Sendung gemeinsam anzusehen und danach darüber zu sprechen. Die Bruderschaft, so betont er, steht Medien nicht ablehnend gegenüber, doch der Umgang mit ihnen werde bewusst gestaltet und eingeschränkt.
Klaus-Dieter Neuhofen, beruflich in der Kommunikationsbranche beschäftigt, fährt seit 30 Jahren regelmäßig zu Einkehrtagen nach Hermannsburg. „Dort entdeckte ich“, so sagt er, ,,dass die Verantwortung für den Umgang mit diesen – ohne Zweifel auch sehr nützlichen – Kommunikationsmedien bei mir liegt. Die Frage ist für mich nicht, ob mich die Mediengesellschaft überfordert, sondern wie viel an Beeinflussung ich zulasse. Das herauszufinden und entsprechendes Verhalten zu entwickeln ist kein leichter und kurzer, aber ein lohnender Weg.“