PRO: Herr Matthies, was war der Anlass für ein weiteres Buch über Stasi und DDR?
Helmut Matthies: Ich habe das Buch „Von Menschen und Zahlen“ von Thomas Begrich gelesen. Der ehemalige Finanzchef der EKD war einer der führenden Männer der Friedlichen Revolution in der DDR. Er schildert sehr eindrucksvoll das Alltagsleben von Christen in der DDR. Seine leider bislang kaum beachteten Erfahrungen wurden die Grundlage für das neue Buch „Glaube, Mut und Freiheit – trotz Stasi-Diktatur und Mauer“. Es beleuchtet Aspekte, über die in dieser Zusammenstellung noch nie berichtet wurde. So erzählt die Theologin Gerlinde Breithaupt, warum sie als Studentin in die DDR gegangen ist. Einer der letzten lebenden Priester, der sowohl den Nationalsozialismus als auch die SED-Diktatur erlebt hat, beschreibt seine Erfahrungen, und Pastor Johannes Holmer, warum sein Vater trotz aller Diskriminierung durch das SED-Regime bereit war, Erich Honecker und seiner Frau nach dem Mauerfall Asyl zu geben. Der Verleger Frieder Seidel veröffentlicht, wie Bibeln in den Ostblock geschmuggelt wurden. Meine Themen sind die Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz und neue Erkenntnisse über den Einfluss der Stasi besonders auf westliche Kirchen, Missionswerke und die evangelikale Bewegung.
Welche Begebenheit hat Sie im Zusammenhang mit dem Thema des Buches am meisten beeindruckt?
1999 habe ich mit Journalisten und Christen, die in der DDR in Haft waren, deren Zuchthäuser besucht. Ich wollte wissen, ob Gott im Leid gegenwärtig war. Unter anderem waren wir im sächsischen Torgau, weil auch dort Gewissensgefangene inhaftiert waren. Da erzählte Hansjörg Stephan, wie er als 21-Jähriger zunächst ins KGB-Gefängnis in Potsdam kam, weil er angeblich antisowjetische Flugblätter produziert haben soll. Obwohl es gelogen war, wurde er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Zuletzt saß er in Torgau. Als er über seine Geschichte berichtete, stand plötzlich eine junge Journalistin auf und rief laut: „Ihr Christen hört endlich auf, von einem liebenden Gott zu reden. Denn dieser völlig unschuldige Christ verlor seine Freiheit, wurde gefoltert und erlebte großes Leid.“
Wie ist die Situation ausgegangen?
Hansjörg Stephan, der später als Pfarrer in Hessen wirkte, hat sich dann ganz ruhig zu der Frau gedreht und gesagt: „Wissen Sie, Gott braucht überall seine Leute. In allen fünf Gefängnissen war ich der Einzige, der während des Freigangs manchen Mitgefangenen erzählen konnte: ‚Wendet Euch an Gott, der kann Euch auch in diesem Elend inneren Frieden schenken‘“. Das ist für mich bis heute der einzige einleuchtende Grund, warum Gott Leid zulässt: Er braucht eben überall seine Zeugen.
Wie empfinden Menschen in der ehemaligen DDR den Umgang mit ihrer Geschichte?
Viele fühlen sich in ihrem Lebenswerk nicht ernstgenommen. Christen haben mit der Ablehnung der Jugendweihe und der Mitgliedschaft in der kommunistischen Freien Deutschen Jugend (FDJ) große Nachteile in Kauf genommen. In der Regel durften sie dann trotz bester Noten kein Abitur machen, mussten also auf eine berufliche Karriere verzichten. Manche von ihnen haben deshalb heute eine geringere Rente als ihre einstigen Spitzel oder Wärter im Zuchthaus.
Wie gut wurden die Machenschaften der Stasi aufgearbeitet?
Leider noch viel zu wenig. Gemessen an der Einwohnerzahl gab es keinen Staat, der so viele Spione gegen seine Bürger eingesetzt hat wie die DDR. Ihr Geheimdienst – das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) – als „Schild und Schwert“ der SED hat sogar gemordet, entführt und erpresst. Das haben viele Bürger in der einstigen DDR nicht vergessen. Deswegen sind sie auch so empfindlich, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden könnte. Der Initiator der Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“, Pfarrer Harald Bretschneider, wurde von 60 Stasi-Mitarbeitern bespitzelt. Nur zwei haben sich bei ihm entschuldigt. Pfarrer Theo Lehmann hat alle angeschrieben, aber niemand hat reagiert. Weil ich mich nicht für wichtig halte, habe ich erstmal keinen Antrag auf Einsicht beim Stasi-Unterlagen-Archiv gestellt. 1994 hat mich dann die EKD informiert, dass ein Pfarrer auf mich angesetzt war, der sowohl für die Stasi als auch für den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet und einen Haftbefehl gegen mich erwirkt hat: Gerd Bambowsky aus Ost-Berlin.
Das hat sich als Trugschluss erwiesen …
Bei der ersten Begegnung mit ihm 1978 in der IDEA-Zentrale in Wetzlar dankte er laut und lange Gott, dass er heil über die streng bewachte innerdeutsche Grenze gekommen sei. Der Missionsbund „Licht im Osten“ hatte ihn mir wärmstens empfohlen. Da er in der (evangelikalen) Evangelistenkonferenz in der DDR mitwirkte, schien er mir gut vernetzt und vertrauenswürdig. Er hat sich dann oft idea-Spektrum-Hefte abgeholt: Anfangs waren es 50, später dann 200. Auf meine Nachfrage, wie er das alles schmuggeln würde, trafen wir uns zunächst in West-Berlin in einer US-Kaserne. Dort wurden die IDEA-Ausgaben US-Soldaten übergeben, die sie den Ostteil bringen konnten, da sie nicht kontrolliert wurden. Dann holte mich Bambowsky am Grenzübergang Friedrichstraße ab und fuhr mit mir durch Ost-Berlin zu einer Schrebergarten-Kolonie am Stadtrand. Dort lagen geheim in einer alten Scheune wichtige West-Zeitungen und ideaSpektrum. Plötzlich schaute er auf die Uhr und öffnete einen Türspalt. Als in dem Moment die Polizei vorbeikam, meinte er panisch, wir könnten entdeckt werden. Er brachte mich sofort in einem Wahnsinnstempo zum Grenzübergang zurück. Nach seiner Enttarnung 1994 stellte sich heraus, dass die Stasi alles inszeniert hat, damit ich davon überzeugt sein sollte, dass er tatsächlich ein Regimegegner sei. Unser angeblicher „Schmuggler“ hat wichtige Kirchenleute besucht und sie mit ideaSpektrum versorgt. Die wiederum bewunderten seinen Mut, mit einem antikommunistischen Wochenmagazin durch die DDR zu fahren. Sie vertrauten dem vermeintlichen Regimegegner an, was sie über ihren Staat dachten. Gleich danach hat er alles seinem Führungsoffizier mitgeteilt. So perfide arbeitete die Stasi! Für uns bei IDEA ist die Sache letztlich gut ausgegangen, weil wir dadurch in der DDR sehr bekannt geworden sind. Dank des Mauerfalls wurde ich auch nicht verhaftet. Pfarrer Bambowsky war damals im Auftrag von Stasi und KGB vor allem dafür verantwortlich, dass Zehntausende für die Sowjetunion bestimmte Neue Testamente vernichtet und dort lebende Christen verhaftet wurden. Seine Aktionen haben so auch Hilfswerken schwer geschadet, die vom Westen aus Gemeinden im Ostblock mit christlicher Literatur versorgen wollten.
Wie sind Sie den Menschen später begegnet, die Ihnen so etwas angetan haben?
Unterschiedlich. Mit einem weiteren Stasi-Spitzel, Lutz Kuche, war ich sogar befreundet. Er war damals Chefredakteur der Zeitschrift des sehr einflussreichen Verbandes Deutscher Zeitungs- und Zeitschriftenverleger und sollte Spitzenpolitiker aushorchen. Er hat mich mehrfach eingeladen und mir Türen zu manchen wichtigen Personen geöffnet. Keiner hatte gedacht, dass er DDR-Agent gewesen sein könnte. Nach seiner Enttarnung kam er für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ich habe ihm dorthin das Andachtsbuch mit den Herrnhuter Losungen geschickt, aus dem er dann – wie er mir stolz berichtete – jeden Tag Mitgefangenen vorgelesen hat. Er hat seine Schuld eingestanden und echte Reue gezeigt. Ich habe weiterhin Kontakt zu ihm gehalten, denn als Christ möchte ich niemand fallen lassen.
Das war bei Pfarrer Bambowsky anders…?
Nach seiner Enttarnung 1994 habe ihn gleich in seinem Haus in Ost-Berlin besucht. Als ich ihn auf seine kriminellen Taten ansprach, meinte er, er sei als Homosexueller von der Stasi erpresst worden. Das hat mich nicht überzeugt, denn in der DDR war schon seit 1967 Homosexualität nicht mehr strafbar. Auch sein nächstes Argument, er habe Geld gebraucht, verfing nicht. Denn er erhielt je ein Gehalt von der Kirche, der Stasi und dem KGB. Zudem wurde er von den christlichen Werken, die er im Westen besuchte, häufig unterstützt. Erst bei meiner dritten Nachfrage gestand er, für die Geheimdienste gearbeitet zu haben, weil er den Sozialismus für das bessere System hielt. Nach seiner Verurteilung 1998 arbeitete er für PDS. Seinen jungen Lebenspartner Knuth Hansen hatte er früh motiviert, ebenso Pfarrer zu werden und für die Stasi und den KGB zu wirken. Auch er vernichtete Bibeln und lieferte Christen ans Messer. Obwohl in einem Buch schon 1999 auf seine schlimmen Taten hingewiesen wurde, wurde er von seiner Kirche bis zu seinem Tod 2019 nicht mit den Verbrechen konfrontiert. Erst jetzt will sich seine Landeskirche um eine Aufarbeitung dieses Falles bemühen.
Dabei waren für viele Bürger Pfarrer doch eigentlich Vertrauenspersonen?
Die ganz große Mehrheit der Pfarrer hat einfach ihre normale Arbeit getan. Es gab sehr mutige Pfarrer wie Harald Bretschneider, Theo Lehmann, Christian Führer, Friedrich Schorlemmer, Rainer Eppelmann, Steffen Reiche und so weiter. In ihren Kirchen hatten Kritiker des DDR-Regimes gewisse Freiräume. Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ hat entscheidend zum Erfolg der Friedlichen Revolution beigetragen. In der Kirchenprovinz Sachsen sollen 0,5 Prozent der kirchlichen Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet haben, deutlich weniger als in anderen Landeskirchen. Es ist bedauerlich, dass sich viele Kirchen bisher nur wenig um eine Aufarbeitung bemüht haben. Selbst 35 Jahre nach dem Mauerfall liegt noch vieles im Dunkeln.
Wie hat die Geschichte Ihre Arbeit als Medienmacher beeinflusst?
Als Berichterstatter von Synoden war mir immer klar, dass sich besonders die Bischöfe in einer schwierigen Lage befanden. Sie mussten Kontakt zum Staat halten. Mindestens zwei Landesbischöfe wurden von der Stasi als Mitarbeiter geführt. Ich habe nicht verstanden, wenn die deutsche Teilung – vorrangig im Westen – in Predigten als Gericht Gottes interpretiert wurde, weil unser Volk für den Holocaust verantwortlich sei. Das aber hätte bedeutet, dass Gott ungerecht wäre: Die „Wessis“ konnten in Freiheit und vielfach in Wohlstand leben, und die „Ossis“ mussten wie in einem „Freiluftgefängnis“, so Joachim Gauck, ausharren. Doch die Bürger in der DDR waren nicht nationalsozialistischer als ihre Landsleute im Westen. Deshalb habe ich gegen diese These vielfach angeschrieben. Weil ich außerdem stets für die Wiedervereinigung eintrat, haben mich auch Evangelikale oft als Träumer abgestempelt. Am 4. Oktober 1989 schrieb ich einen idea-Leitartikel mit dem Titel „Wiedervereinigung – was sonst?“ Ich wurde danach in die Kirchenverwaltung der hessen-nassauischen Kirche in Darmstadt einbestellt. Der Kirchenpräsident äußerte, ein Pfarrer seiner Kirche dürfe eine solche rechtsextreme Position nicht einnehmen. Ich berief mich dann auf die damalige Präambel des Grundgesetzes, nach der alle Politik auf die Vollendung der Einheit Deutschlands ausgerichtet sein müsse. Ich hatte also nichts Extremes geschrieben. Nach der Wiedervereinigung hat mich der Kirchenpräsident besucht. Wir haben uns ausgesprochen.
Haben Sie persönlich daran gezweifelt, dass Sie die Wiedervereinigung erleben?
Die Wiedervereinigung ist nach meiner Bekehrung und Hochzeit das schönste Ereignis meines Lebens. Ich habe erwartet, dass die Einheit Deutschlands irgendwann kommt. Dass ich sie erlebe, habe ich nur zu hoffen gewagt.
Wie schwer ist es Ihnen gefallen, Menschen im Nachgang zu vergeben?
Der Stasi-Spitzel Lutz Kuche hat seine Taten bereut. Da war das gar kein Problem für mich. Im Vaterunser heißt es in der ältesten Fassung: „Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern“. Ich brauche selbst viel Vergebung. Deswegen ist es mir selten schwergefallen, anderen zu vergeben. Wenn ich es nicht nicht täte, dürfte ich auch kein Vaterunser mehr beten.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie denn im Nachgang auf die Wiedervereinigung?
Ich war damals auf der EKD-Synode in Bad Krozingen im Schwarzwald. Die meisten Synodalen haben am Abend des 9. November gar nicht realisiert, was da für eine Nachricht durchsickerte, sondern sich besonders mit Feminismus beschäftigt. Auf dem Rückweg ins Hotel spätabends ging vor mir ein großer, hagerer Mann. Er summte den Choral: „Großer Gott, wir loben Dich“. Es war der Präsident des Kirchenamtes der EKD in Hannover, Otto von Campenhausen. Wir haben uns spontan umarmt. Er gehörte zu den ganz wenigen Kirchenleuten, die begriffen hatten, was Gott für ein Wunder getan hatte. Bis zur Wiedervereinigung haben mir manche Bibelstellen große Probleme bereitet. Beispielsweise heißt es im Lobgesang der Maria (Lukas 1,52) : „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.“ Ich glaubte, dass ich so etwas nie erleben würde, hielt es auch für unrealistisch. Doch die Verheißung erfüllte sich mit dem Sturz der DDR-Diktatur. Ebenso die zweite Vershälfte: Nach dem Mauerfall übernahmen zahlreiche Christen politische Verantwortung, weil sie eben unbelastet waren. Der Mauerfall und die Zeit davor und danach haben mich bestärkt, Worte der Heiligen Schrift noch ernster zu nehmen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Thomas Begrich/ Johannes Holmer (Hg.), Glaube, Mut und Freiheit – trotz Stasi-Diktatur und Mauer, 344 Seiten, Concepcion SEIDEL OHG, ISB: 9783867162708, 19,95 Euro.