Ihre grünen Augen, sagt sie, findet sie besonders schön. Die farbig leuchtende Iris wird von einem dunklen Ring eingefasst. Auch ihre Lachfalten, die sich in den Augen- und Mundwinkeln abzeichnen, mag sie gerne. Genauso wie ihre sportliche Figur. Früher dachte sie, alt zu werden sei „grausam“. Doch mittlerweile mag Annette Friese ihren 50-jährigen Körper, die dünner werdende Haut und die Fältchen im Gesicht. „In meinem Gesicht sehe ich die traurigen, aber auch die guten Zeiten“, sagt sie. Keine Frage, Friese ist auch mit 50 Jahren eine attraktive Frau. Mit rosa Turnschuhen, hellblauer Häkelstrickjacke und weißem Shirt sitzt sie ganz entspannt bei einem Kaffee. Um den Hals trägt sie eine kleine silberne Kreuzkette. Die Haut ist braungebrannt und die Fingernägel leuchten in einem sommerlichen Orange-Rot. Etwas Make-up und Rouge unterstreichen ihr Äußeres.
Schönheit und vor allem Selbstliebe sind Frieses Herzensthemen. Zusammen mit der Schauspielerin Eva-Maria Admiral hat die Literaturagentin des adeo-Verlags das Buch „Schön ohne aber“ herausgegeben. Christinnen und Christen berichten darin, wie sie von Körperhass zu Körperliebe gefunden haben, und schreiben offen von Essstörungen, Bodyshaming oder Diätwahn – und ihren individuellen Wegen der Heilung. Admiral, selbst in ihrer Jugend von Magersucht betroffen, ist die Ideengeberin des Buches und liefert neben ihrer persönlichen Geschichte auch viele Übungen, um Selbstliebe zu trainieren. „Schön ohne aber“ will Frauen dazu ermutigen, sich nicht dem Druck nach einem perfekten Körper hinzugeben, sondern sich unabhängig vom Frauenbild in Medien und Gesellschaft schön, glücklich und selbstbewusst zu fühlen.
Sich selbst schön zu finden und mit sich im Reinen zu sein, war für Friese lange Zeit nicht möglich. Sie spricht offen über ihre Essstörung und ihre Alkoholsucht. Von der Sucht fühlt sie sich geheilt, aber „das wird man nie los. Man muss immer auf sich Acht geben.“ Seit zwölf Jahren ist sie jetzt trocken. Die Essstörung macht ihr hin und wieder noch zu schaffen. Viele hätten ihr gesagt: „Rede nicht darüber, dass du Alkoholikerin und essgestört bist.“ Das könne sich negativ auswirken. Friese nimmt das aber in Kauf. „Ich habe Respekt davor, wenn so ein Interview veröffentlicht wird. Aber ich traue mich.“ Frauen wie sie müssten das auf sich nehmen. „Es muss Schluss sein mit dem Versteckspiel und damit, dass Frauen kleingeredet und in Schablonen gepresst werden.“
Sie wählt ihre Worte mit Bedacht und Nachdruck und spricht überlegt. Oft sagt sie „So.“, wenn sie eine Antwort beendet hat. Besonders behutsam redet sie von ihrem Elternhaus. Schon bevor sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen, sagt sie, sie wolle ihren Eltern kein Leid zufügen. Sie habe ihnen „alles vergeben und verziehen“. Und: „Ich liebe sie sehr.“ Ihre Familie, auch ihre drei Geschwister, seien die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Mehrmals sagt Friese das während des Interviews. Doch sie wolle auch ehrlich sein und nichts beschönigen.
Liebe nur gegen Anpassung
Ihr Aufwachsen in einem freikirchlichen Umfeld in Essen sei geprägt gewesen von „einer strengen, leibfeindlichen, christlichen Subkultur“. Sie ging auf eine Klosterschule. Mit niemandem habe man offen und ehrlich über das Thema Sexualität sprechen können. Der Tenor war: „Das gehört in die Ehe und bis dahin hast du dich damit nicht zu beschäftigen.“ Als junges Mädchen hatte Friese das Gefühl: Darüber sollte man nicht reden. Auch das Thema Schönheit sei verpönt gewesen. „Unser Vater fand es nicht gut, wenn wir Make-up benutzten, und versuchte, es uns zu verbieten.“ Ebenso wie kurze Röcke, kurze Hosen oder Mode generell. In gewisser Weise könne sie das bei einem Vater nachvollziehen, der seine Töchter vor Sexualisierung schützen will. Doch Äußerlichkeiten seien alle als „Tand“ abgetan worden.
Dass sie eine Essstörung entwickelte, hatte viele Gründe, sagt Friese. „Ich habe als Kind bedingungslose Liebe gesucht und nicht bekommen.“ Sie stellt es so beiläufig fest, dass es beinahe schmerzt. Liebe und Zugehörigkeit habe es, auch in der Kirche, nur gegen Leistung, gegen Anpassung gegeben. „Das hat meine Seele total beschädigt.“ Den inneren Hunger und die Leere füllte die junge Annette dann mit Essen oder auch Nicht-Essen. Sie lernte, es sei nicht gut, eine Frau zu sein, denn das habe mit Sex zu tun. So fing sie an, sich dünn zu hungern, um alles Weibliche an ihrem Körper verschwinden zu lassen.
Friese stellt nicht in Frage, dass sie als Kind und Jugendliche wunderschöne Momente erlebte. Mit den anderen Mädchen in ihrer christlichen Jugendgruppe habe sie wunderschöne Sommerlager und Freizeiten erlebt. Man habe sich ausprobieren können in Sport, Literatur und Musik. Und „die gegenseitige Liebe zueinander“ schätzte sie besonders. Doch der Unterton der christlichen Strenge, der Ablehnung des Körperlichen, war da.
„Die Welt ist nicht heil, es ist nicht alles schön. Wir müssen uns verletzlich zeigen.“
„Viele seltsame Wege“ habe sie in ihrem Leben seitdem eingeschlagen, sagt Friese. Welche genau, führt sie nicht weiter aus. Sie spricht aber von einem PR-Job, der sie unglücklich machte, einer gescheiterten Ehe und schwierigen Beziehungen. Das alles habe sie schier krank gemacht, sodass sie 2005 eine „groß angelegte Flucht“ startete und mehr als ein Jahr lang die Welt bereiste – ganz allein. Als Seglerin auf dem Mittelmeer, dann weiter in die Karibik, nach Südamerika und sogar in die Mongolei verschlug es sie. Sie habe viel erlebt und großartige Menschen kennengelernt, aber anders als bei Weltreisen von anderen sei ihre eigentlich „auch ziemlich schlimm“ gewesen: Probleme mit Männern, Einsamkeit und Traurigkeit kamen über sie.
Nach der Reise kam sie „ohne Plan“ zurück und der Tiefpunkt folgte erst noch. Unaufgearbeitetes aus der Jugend, das Zerrissensein zwischen der frommen und der säkularen Welt und der Umgang mit Menschen, von denen sie sagt, dass sie ihr nicht gut taten, führten schließlich dazu, dass sie neben der schon vorhandenen Essstörung alkoholsüchtig wurde. Sie versuchte, sich umzubringen. Das sei aber so dilettantisch gewesen, dass es „natürlich“ nicht geklappt habe. „Gott sei Dank“, sagt Friese. Sie lacht. Aber es klingt bitter. Die junge Frau ging in eine Rehaklinik. Dass sie „ihr Leben komplett vor die Wand gefahren“ habe, sei die damals tiefgreifendste Erfahrung bisher gewesen.
Nach vielen Jahren ohne Gott wandte sie sich ihm wieder zu. Sie wollte es noch einmal mit ihm probieren. Aber anders. Freier. Friese las den Roman „Die Hütte“. Nur deswegen könne sie heute wieder glauben, sagt sie. Gott wird darin als eine Frau beschrieben. Auch für Friese offenbart sich Gott mit weiblichen Attributen. Sie kann Gott nicht als Vaterfigur sehen und fragte lange Zeit: „Wie soll ich dich denn ansprechen?“ Für sie ist Gott eine Art „Mutter der Welten“. Für viele Christen wahrscheinlich harter Tobak, ist ihr bewusst. Doch: „Wenn Männer sich Gott vermännlichen, warum kann ich mir nicht ein Bild suchen, in dem Gott weiblich erscheint? Wir wissen ja alle, dass er weder dies noch jenes ist.“
Friese liest die „Bibel in gerechter Sprache“, in der Gott zum Beispiel „Die Ewige“ genannt wird. Erst seitdem sie das tut, ist er wieder für sie zugänglich. „Gott hat sich gewandelt von einem strafenden Gott zu einer liebenden Mutter.“ Mit Jesus sei das anders: „Meine Verbindung zu ihm ist so eng, weil sie so alt ist. Er ist um mich herum, seit ich ein Kleinkind bin, und existiert für mich als mein Freund.“ Mit Jesus führt sie einen „permanenten inneren Monolog“. Seine Worte in der Bibel sind für Friese „die Richtschnur“. Deshalb pfeife sie auch auf die sogenannte Moral, sagt sie. „Meine Ethik stammt aus meinem inneren Monolog mit Gott.“ Ihr Glaube soll ihr Handeln bestimmen und nicht eine kulturelle Prägung.
Mit der Veränderung ihres Gottesbildes wandelte sich auch ihre Einstellung zu anderen Menschen. Früher sei sie eine „zynische und menschenverachtende Person“ gewesen. In der Therapie beschloss sie, „von jetzt auf gleich“ alle Menschen zu lieben. Das half ihr, eine andere Haltung zu Menschen zu finden. „Das ist mein größter Schatz.“ Friese entdeckte ihre eigene Liebesfähigkeit. In jedem Menschen erkenne sie Schönheit, Brillanz und Kreativität. Es ist wichtig, dass sich jeder so entfaltet, wie Gott ihn sich gedacht hat, findet sie. „Wenn jeder das wäre, was er sollte, dann lebten wir im Paradies. Das wäre die schönste Welt“, glaubt sie. Deshalb entwickelt sie auch Bücher wie „Schön ohne aber“ und geht als Literaturagentin auf die Suche nach Menschen und Geschichten, die ihrer Meinung nach erzählt werden müssen.
Friese bezeichnet sich als Feministin. Das heißt für sie: „Eintreten für alle, die unterdrückt sind, egal ob Flüchtlinge, Frauen, People of Color, und für mehr Gerechtigkeit und Liebe in der Welt sorgen.“ Ein großer Teil ihres Bewusstseins für Gerechtigkeit entwickelte sich, als sie während ihrer Weltreise die Slums in Lima mit eigenen Augen sah. Ihr Wunsch, zu teilen, und nach einer gerechten Welt, „speist sich aber auch daraus, dass ich selbst krass Unterdrückung erlebt und viel Gewalt von Männern erfahren habe. Wirklich schlimme Sachen, die mich wütend gemacht haben.“
Noch einmal kommt sie auf ihre Eltern zu sprechen. Beide sind mittlerweile alt, der Vater 80 Jahre, die Mutter 75. Viele Jahre kümmerte sie sich nicht um ihre Familie. Das lastet heute auf Friese. „Ich habe so viele Jahre verloren.“ So oft es geht, besucht sie die Eltern im Ruhrgebiet, spaziert mit dem Vater durch den Garten und lässt sich die einzelnen Blumen erklären. Mit der Mutter teilt sie die Leidenschaft für Bücher. Es werde nicht mehr so hart diskutiert wie früher, auch nicht über Theologisches. Die Themen sind leichter. Friese möchte die Zeit auskosten, die ihr mit den Eltern noch bleibt. Schon jetzt hat sie „Panik“ vor dem Tag, an dem sie sterben werden. „Ich werde untröstlich sein und durchdrehen, das wird ganz schwer für mich.“ Tränen glitzern in den Augen. Dann wird sie wieder etwas fröhlicher und berichtet, wieviel Spaß sie auch mit ihren Geschwistern habe, dass sie sich riesig auf die anstehende Hochzeit ihres Neffen freue, und von der WhatsApp-Gruppe, in der sich alle Familienmitglieder fast täglich austauschen.
Der eigenen Stimme trauen
Frieses Ziel: „Ich möchte die Person werden, die Gott in mir gesehen hat, als er mich schuf.“ Dieser Weg sei niemals zu Ende. „Ich wünsche mir, dass ich mich entwickle, gesünder und heiler werde, bis ich sterbe.“ Damals in der Klinik habe sie auf einmal das Gefühl gehabt, dass dieser Weg nun nicht mehr aufzuhalten sei. „Das tröstet mich. Das ist das Vorrecht von uns Christen, dass wir wissen, dass Gott uns unterstützt. Wie er alle unterstützt, die es zulassen.“
Was würde sie jungen Mädchen mitgeben, die sich in einer ähnlichen Situation wie Friese selbst als Teenager befinden? Einen allgemeinen Rat mag sie nicht geben, denn jedes Schicksal sei individuell, sagt sie. Aber einen Appell hat sie: „Trau deiner eigenen Stimme. Hör’ in dich rein, was du eigentlich selbst willst.“
Und noch etwas wünscht sie sich in Bezug auf das Thema Schönheit: Dass in den Medien und der Werbung mehr „echte“ und unbearbeitete Bilder gezeigt werden. Dass man nicht danach beurteilt wird, wie man aussieht, sondern wie man handelt. „Die Welt ist nicht heil, es ist nicht alles schön. Wir müssen uns verletzlich zeigen. Deswegen bin ich ehrlich, auch wenn mich das etwas kostet.“
Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 4/2020 des Christlichen Medienmagazins pro. Die pro können Sie hier bestellen.
Von: Swanhild Zacharias