PRO: Frau Estner, Sie sind mit 55 Jahren durch eine OP vom Mann zur Frau geworden. Ist das richtig so?
Sabine Estner: Frau war ich innerlich schon immer. 2018 begann meine Transition. Ich habe aufgehört, meine Männerrolle zu leben, habe eine Vornamens- und Personenstandsänderung vorgenommen und eine Hormontherapie begonnen. Drei Jahre später kam die erste OP.
Sie sagen, Sie waren immer schon innerlich eine Frau. Warum kam der körperliche Wandel dann für Sie erst mit 55 Jahren?
Als Kind habe ich das nicht einschätzen können. Ich wusste nicht, was mit mir „falsch“ ist. Ich fühlte mich nicht als Junge, aber ich war körperlich auch kein Mädchen. Ich habe immer versucht, mich irgendwie anzupassen. Meine Eltern haben das natürlich gemerkt, das ging so weit, dass mein Vater mich einmal so sehr verprügelt hat, dass ich bewusstlos wurde. Da habe ich das erste Mal dissoziiert, also gewissermaßen meinen Körper verlassen, damit ich den Schmerz nicht ertragen muss. Ich hatte lange Zeit keine Erinnerung mehr an den Vorfall, weiß aber heute, dass er mich schwer traumatisiert hat. Damals traf ich eine Entscheidung: Ich tue künftig alles, damit ich nie wieder solche Gewalt erfahren muss. Ich habe die Erwartungen meines Vaters zu erfüllen versucht, Elektrotechnik studiert, obwohl ich mich eher in der Kunst sah. Dennoch gab es immer wieder Situationen, in denen ich gemerkt habe, dass irgendetwas nicht passt. Freundinnen behandelten mich oft eher wie eine Frau zum Beispiel. Ich glaubte dann lange, ich könnte einfach als femininer Mann durchgehen. Bin dann sogar ins Kloster gegangen, um nicht mehr andauernd mit meiner Transidentität konfrontiert zu sein. Ich erinnere mich noch genau, dass ich während des Studiums mal eine Sendung sah, in der eine Transfrau auftrat, die eine geschlechtsangleichende OP gemacht hatte. Das fand ich sehr faszinierend, ich habe das nie vergessen und zugleich war mir klar: Wenn ich mit so etwas komme, dann bringt mein Vater mich um. Ich hätte damals auch nicht die Kraft gehabt, mich zu outen. Ich litt damals schon am Chronischen Erschöpfungssyndrom.
Hatten Sie als junger Mann den Glauben daran, dass Sie sich ändern können?
Ich habe immer geglaubt, dass das gehen könnte, wenn ich nur die richtige Therapie finde oder wenn ich einfach genügend bete. Ich habe wirklich gebetet ohne Ende. Ich habe Seelsorge gemacht. Therapien. War viele Jahre im Kloster. Ich habe über 700 Heilungsgottesdienste besucht, habe mich salben lassen mit Öl, sogar Exorzismen an mir durchführen lassen. Ich habe jeden Strohhalm genommen, um meine Transidentität zu bekämpfen. Aber es hat einfach nicht geholfen.
Sie müssen wütend auf Gott gewesen sein.
Ich war oft frustriert. Ich habe Gott immer gefragt: Was mache ich falsch? Bis ich schließlich an Weihnachten 2017 einfach kapituliert habe. Ich habe gesagt: Jesus, jetzt habe ich wirklich jede mögliche und unmögliche Therapie gemacht. Es gibt nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ich lebe jetzt als Frau oder gar nicht mehr. Ich habe zu Jesus gesagt: Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Du willst, dass ich lebe, also entscheide ich mich fürs Leben. Aber das heißt auch: das Leben als Frau. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich diesen Weg nur mit ihm gemeinsam gehe. Und er ist immer an meiner Seite geblieben.
Was war schmerzhafter, das soziale Outing oder die OP?
Als ich mich zur geschlechtsangleichenden OP entschieden habe, da hatte ich schon alles verloren. Ich hatte gerade meinen dritten Burn-Out hinter mir. Durch meine chronische Erkrankung war ich arbeitsunfähig. Meine Wohnung war weg, ich musste wieder zu meiner Mutter ziehen, mein Vater ist verstorben. Ich war an dem Punkt, an dem ich dachte: Es ist alles egal. Jetzt riskiere ich es, ich kann jetzt auch als Frau leben. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich habe nur noch Jesus. Trotzdem war da natürlich die Angst vor Ausgrenzung, vor Diskriminierung, vor Benachteiligung, die Angst, nie mehr eine Arbeit zu finden, nie mehr eine Beziehung zu haben. Nur vor der OP hatte ich keine Angst. Ich wusste: Danach wird endlich alles zusammenpassen, auch wenn es schmerzhaft wird. Die OP war eine Erlösung. Und jetzt ist es gut.
Der Gott, von dem Sie sprechen, hat sie als biologischen Mann geschaffen. Sie sind jetzt eine Frau. Trotzdem sagen Sie: „Ich bin, wie Gott mich schuf.“ Wie passt das zusammen?
Ich habe Gott sehr oft gefragt, warum er mich so gemacht hat. Warum ich so viel Leid erfahren musste. Warum ich in der Kindheit traumatisiert wurde. Warum mir so viel Gewalt angetan wurde. Warum ich eine chronische Krankheit habe. Warum ich transident bin. Eines dieser Dinge hätte ja schon für ein ganzes Leben gereicht. Gott hat mir geantwortet und gesagt: Wer viel tragen kann, muss auch viel tragen. Das wollte ich natürlich nicht hören. Aber Jesus sagt in der Bibel: Ich werde niemandem mehr aufladen, als er tragen kann. Ich weiß heute: Mein Weg war schwer. Aber ich habe durch Jesus auch viel Heilung erfahren.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie besonders Christen Sie immer wieder enttäuscht haben.
Christen enttäuschen, aber Christus nicht. Christen sind Menschen und Christen sind Sünder. Aber Christus ist der Rettungsanker. Ich bin mit 30 Jahren von einem Seelsorger sexuell missbraucht worden. Das war vermutlich die schlimmste Enttäuschung. Aber es waren auch viele andere Dinge. Gutgemeinte Ratschläge, die bei mir ankamen wie Schläge: „Du musst beten. Noch mehr beten.“ Oder auch Angriffe, meistens hinter meinem Rücken. Ich bin katholisch, war aber eine Zeit lang in einer evangelischen Freikirche. Da habe ich einmal mitbekommen, wie einige über mich gelästert haben. Bis dann eine Freundin dazu kam und fragte: Wie weit geht denn eure christliche Nächstenliebe? Ich habe also auch erlebt, wie Menschen für mich eingestanden sind. Aber ich bin auch von zwei Mitgliedern dieser Kirche vehement verbal angegriffen worden. Und irgendwann hat man mich gebeten, nicht mehr in die Gottesdienste zu kommen, ich würde die Gemeinde spalten. Dabei wollte ich nie Dienste übernehmen oder mich aufdrängen, ich wollte nur da sein.
Was hätten Sie sich denn gewünscht von Christen?
Ich wünsche mir, dass sie sich wirklich mit dem Thema beschäftigen, mit Betroffenen sprechen und nicht nur ihre Vorurteile füttern. Ich verstehe den Vorwurf vieler Konservativer nicht, ich würde mir mein Geschlecht aussuchen. Das habe ich nicht. Warum sollte ich mir etwas aussuchen, wofür ich diskriminiert, ausgegrenzt, benachteiligt, angegriffen werde, bis hin zu körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch? Manchmal kommen Leute zu mir und sagen: Wir akzeptieren, dass du lieber eine Frau sein willst. Und ich denke: Oh Mensch, die haben das immer noch nicht verstanden. Ich wollte nie eine Frau sein. Ich bin eine Frau in einem Männerkörper. Und das lässt sich nicht ändern. Die einzige Möglichkeit, zu überleben, war für mich, als Frau zu leben und auch die Optik zu verändern inklusive der geschlechtsangleichenden OP. Transidentität sucht man sich nicht aus. Geschlecht sucht man sich auch nicht aus.
Alice Schwarzer hat mal gesagt: „Heute suggeriert man Mädchen, wenn sie keine richtige Frau sein wollten, seien sie eben ein Mann.“
Es gibt immer wieder Menschen, die denken, wenn sie im anderen Geschlecht lebten, hätten sie es leichter. Im Internet las ich mal von einem Mann, der schrieb, er lebe jetzt als Frau und das habe er sich immer gewünscht. Bei sowas klingeln bei mir alle Alarmglocken. Ich habe mir nie gewünscht eine Frau zu werden. Transidente Menschen wünschen sich das nicht. Sie sind es bereits. Alles andere führt dann zu den sogenannten Detransitionen. Aber nur ca. 0,5 bis 1 Prozent der Menschen, die eine Transition machen, merken irgendwann, dass sie nicht transident sind und detransitionieren später.
Wird es Menschen heute zu leicht gemacht, das Geschlecht zu wechseln?
Bisher brauchte es nach dem Transsexuellengesetz zwei Gutachter und einen Gerichtstermin, um die Personenstands- und Vornamensänderung durchzuführen. Und dafür musste man viel Geld ausgeben. Durch das Selbstbestimmungsgesetz geht die Personenstands- und Vornamensänderung jetzt sehr viel einfacher, was ich schon für eine Verbesserung für transidente Menschen halte. Anders ist es bei medizinischen Maßnahmen. Das Selbstbestimmungsgesetz hat nichts mit Operationen oder Hormontherapien zu tun. Da sind die Hürden noch immer hoch. Man muss in psychotherapeutischer Behandlung sein, braucht eine eindeutige Diagnose, ein Gutachten, und Komorbidität muss ausgeschlossen werden, also etwa eine vorliegende Schizophrenie. Dann erst gibt es eine Hormontherapie und danach erst die geschlechtsangleichende OP. Wir sprechen von 0,5 bis 1 Prozent aller Menschen, die wirklich transident sind. So gesehen wird das Thema derzeit vielleicht etwas aufgebauscht.
Ein wichtiger Kritikpunkt am Selbstbestimmungsgesetz war der Jugendschutz: Änderungen des Geschlechtseintrags sind nun schon mit 14 Jahren und dann auch gegen den Willen der Eltern möglich, wenn ein Gericht das für rechtmäßig hält. Könnten junge Menschen so auf einen falschen Weg gebracht werden?
Jugendliche haben sehr häufig Identitätsschwierigkeiten, wenn sie in die Pubertät kommen. Weil der Körper sich verändert und auch die gesellschaftlichen Rollen. Nun müssen Jugendliche mehr als früher überlegen, ob sie ein Junge oder ein Mädchen sind. Aus einer Ausnahme wie Transidentität kann man keine Regel für alle machen. Nicht jeder muss und soll sein Geschlecht überprüfen. Wir müssen aber anerkennen lernen, dass es Transidentität gibt. Erzieher und Lehrer müssen dahingehend geschult sein.
Können Sie als Christin etwas mit dem Satz anfangen: „Ich bin im falschen Körper geboren“. Denn das impliziert ja, dass Gott einen Fehler gemacht hat.
Ich sage das so nicht. Ich glaube, Transmenschen sind bewusst so von Gott geschaffen, genauso wie intergeschlechtliche Menschen (die sowohl männliche als auch weibliche biologische Eigenschaften haben, d. Red.). Gottes Schöpfung ist vielfältig. Davon berichtet übrigens auch schon die Bibel, etwa im Matthäusevangelium 19,12 („Denn es gibt Verschnittene, die von Geburt an so sind; und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. Wer es fassen kann, der fasse es!“ Luther 2017, d. Red.). Also: Gott hat keinen Fehler gemacht. Aber dennoch passt mein biologisches Geschlecht nicht zu meinem seelischen. Ich würde das vergleichen mit einer Gaumenspalte. Die wird heute auch ganz selbstverständlich operiert. Das ist ein Eingriff in Gottes Schöpfung, wenn Sie so wollen. Aber es stört wohl kaum einen Christen. Weil die Operation Leid lindert.
Sie beschreiben in Ihrem Buch die schrecklichen Missbrauchserfahrungen, die Sie schon als kleines Kind gemacht haben. Könnten die zu Ihrer Transidentität geführt haben?
Da war ich mir lange Zeit nicht sicher. Im Grunde habe ich das sogar gehofft, denn dann wäre es ja behandelbar gewesen, indem man das Trauma löst. Aber es hat sich herausgestellt, dass es anders herum war: Ich wurde missbraucht, weil ich transident bin. Und weil ich misshandelt wurde. Mein Vater schlug mich bewusstlos, weil er mit meiner Identität nicht zurecht kam und mich dabei erwischte, wie ich einen Rock meiner Mutter anprobierte. Der sexuelle Missbrauch durch einen Verwandten kam, weil ich immer versucht habe, mich anzupassen, weil ich alles über mich ergehen ließ, weil mein Selbstbewusstsein im Keller war. Weil ich es schon gewohnt war, zu dissoziieren, also mich von meinem Körper zu lösen, damit ich schlimme Dinge nicht bewusst miterleben musste.
Sie sind heute nach einem Ausflug in die freikirchliche Szene wieder in der katholischen Kirche aktiv. Wie geht es Ihnen da jetzt?
Es gibt immer Christen, die ein Problem mit mir haben. Aber eine Gemeinde besteht aus vielen verschiedenen Menschen. Es ist wie in einer Familie: Man streitet. Man verbiegt sich gelegentlich. Manche tragen Masken. Manche wissen alles besser. Aber ich weiß, wer ich in Gottes Augen bin. Und das ist, was zählt. Ich bin sein Meisterwerk. Ich bin seine geliebte Königstochter und er liebt mich so, wie ich bin.
Frau Estner, vielen Dank für das Gespräch.