„Ich habe abgetrieben“

Sabine Riemann hat abgetrieben, als bei ihrem ungeborenen Kind eine Fehlbildung festgestellt wurde. Dadurch zerbricht etwas in ihr, sie erlebt tiefe Schuldgefühle. Dann findet sie zum Glauben und erfährt Vergebung.
Von PRO

Ein bisschen unsicher noch tastet sich der Junge ins Leben. Suchend, fragend. Aus einem vagen Dunkel in ein farbenreiches Licht. „Wo bin ich?“ – „Wer bin ich?“ – „Was bin ich?“ Und immer gibt es eine Antwort. Da ist ein Gegenüber, unsichtbar und doch erfahrbar, spürbar und auch hörbar: „Hab keine Angst, mein Kind!“ Das ist der allererste Zuspruch aus dem Irgendwo. „Ich bin bei dir, bin immer da.“ Und weil der Junge nicht aufhört zu fragen, wird in diesem Dialog bald klar, wer da spricht: Es ist der Schöpfer selbst, Gott, der alles erschaffen hat – auch ihn, von den Eltern erwartet, aber lange vor seiner Geburt schon gestorben. Nicht einfach so, sondern willentlich dem Leben entrissen. Wieso, weshalb, warum? Immer weiter fragt der Junge, immer konkreter formt sich für ihn ein Bild – von dem, was geschehen ist, und von dem, der da mit ihm spricht: ein liebender Gott, der Vergebung bereithält, auf immer und ewig. Und so hat der kleine Marinus am Ende einen großen Wunsch: dass der Ich-bin-der-ich-bin auch Mama und Papa zeigt, dass er sie lieb hat. Und Gott? Sagt das zu.

Tröstlich ist die Geschichte, die das Buch mit dem Titel „Marinus“ erzählt; und sie ist dabei durchaus eine, die weitere Fragen aufwirft: nach Schuld und Sühne, nach dem Anfang, dem Ende und dem Recht auf Leben und auch nach der Geschichte hinter der Geschichte. „Marinus“ will Frauen, die ihr Kind abgetrieben haben, helfen, ihre oft genug schmerzhaften Gefühle zu verarbeiten. Das Buch soll ein Fingerzeig sein auf den einzigen, der tatsächlich vergebende Befreiung schenken kann: Gott – durch seinen Sohn, den Erlöser, den Heiland, durch Jesus Christus.

Entscheidung für den frühen Verlust

Der im ostwestfälischen Raum beheimatete Verein „Sei Willkommen“ vertreibt „Marinus“ schon seit einigen Jahren. Hinter dem Projekt – und damit auch hinter dem Autorinnen-Namen „Hannah“ – stehen Menschen, die Frauen, denen ihre Abtreibung seelische (und vielleicht auch körperliche) Not macht, helfen möchten: die Illustratorin Marie Franke, der Pastor einer evangelischen Freikirche, Mitarbeiterinnen des Weißen Kreuzes in Bielefeld und, als Initiatorin, mit Sabine Riemann eine Frau, die das Erzählte selbst erlebt hat. „Marinus“ ist auch ihre Geschichte.

Sie beginnt glücklich im Jahr 2005. Als alleinerziehende Mutter einer dreijährigen Tochter wird Riemann – in einer neuen Beziehung – schwanger. Die werdenden Eltern freuen sich auf das Kind. Doch schon der zweite Termin beim Gynäkologen verändert die Situation. Da sei etwas oberhalb des Kopfes nicht in Ordnung. Ein Feinultraschall verdichtet den Verdacht: Das Ungeborene hat keine Schädeldecke, es ist nicht überlebensfähig. „Ich war total geschockt, überfordert, verzweifelt“, schildert Riemann im Gespräch mit pro ihre Gefühlslage von einst.

Der Arzt rät zur Abtreibung. Als dringliche Option für die Mutter, die ihr Kind haben und beschützen möchte, es aber verlieren wird. Riemann sieht sich im Zwiespalt. Sie stimmt einem Schwangerschaftsabbruch zu. Auch weil sie lieber früh den Verlust (hier brechen alte Ängste auf) ertragen möchte, als sich emotional noch stärker an das Ungeborene zu binden; auch weil sie sich der Verantwortung für die dreijährige Tochter stellen möchte. Sie habe sich in diesem Moment „für das Leben, das da und sichtbar ist“, entschieden.

Etwas zerbricht in ihr

Für die obligatorische Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch sucht sie die Organisation „pro familia“ auf. Die Möglichkeit, die ihr dort aufgezeigt wird, das Kind ungeachtet der „Exencephalus“-Diagnose austragen zu können, ist für Riemann keine mehr. Einige Tage später hat sie den Termin zum Abbruch, wegen der medizinischen Indikation ist das in der 14. Woche durchaus möglich. Allerdings, und das wusste die werdende Mutter vorher nicht, kann der Abbruch nicht „einfach so“ mit einer Ausschabung erfolgen, sondern sie muss den Fötus tatsächlich aktiv gebären. Ein „zweiter Schock“. Riemann bekommt das Kind, um es gleich zu beerdigen. Sie sieht es und sieht nicht, dass am Kopf irgendetwas offen ist. Sie möchte es berühren und darf es nicht. Sie drängt darauf zu erfahren, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen ist. Obschon eine gesicherte Aussage zu diesem frühen Zeitpunkt kaum möglich ist, geben ihr die Ärzte eine Antwort. Das Kleine sei ein Junge. So kann Riemann ihm einen Namen geben, Luca. Sie bettet es in eine Art Sarg aus Pappkarton und bestattet es, auch wenn sie selbst noch keine Christin ist, mit Hilfe des evangelischen Pfarrers der Kirchengemeinde an der Grabstätte ihrer Oma. Sie „wollte es nicht umbringen“ und fühlt sich doch schuldig. Mit dem bewussten Abschiednehmen versucht sie, „dem Kind Würde zu geben“.

Es ist etwas in ihr zerbrochen. Die Folge: Schuldgefühle, Ängs­te, Selbstverletzungen, Todesgedanken, das emotionale Abschotten von denen, die ihr nah sind, der Tochter, dem Gefährten. Riemann nimmt aufgrund ihrer posttraumatischen Belastungsstörung sehr bald psychologische Hilfe in Anspruch; bekommt 2006 ein weiteres Kind, einen Sohn, doch eine echte Wende nimmt ihr Leben erst nach einigen Jahren.

Eine alte Freundin wird nicht müde, ihr von Jesus Christus zu erzählen. Zunächst ohne Widerhall. Für Riemann ist der Glaube der Freundin „Unfug“. Doch die Verzweiflung treibt sie an einem Abend mit extremen Todesängsten zum Hilferuf ins für sie Ungewisse: „Jesus, wenn es dich wirklich gibt, mach diese Ängste weg!“ Innerhalb von wenigen Sekunden, berichtet sie auf der Homepage von „Sei Willkommen“, „erstarben die Ängste – und ich war verblüfft“.

Sabine Riemann leitet den Verein „Sei willkommen“, der Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch unterstützen möchte. Das Buch „Marinus“ erzählt die Geschichte ihres ungeborenen Kindes.

Sabine Riemann leitet den Verein „Sei willkommen“, der Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch unterstützen möchte. Das Buch „Marinus“ erzählt die Geschichte ihres ungeborenen Kindes.Foto: Sabine Riemann

Riemann sucht und findet den Kontakt zu einer Gemeinde, nimmt dort an einem Alpha-Glaubenskurs teil und erlebt „in einer intensiven Gebetszeit“ eine umfassende Veränderung. Ihr wird klar, dass sie Gott auch die Abtreibung ihres Kindes hinlegen kann, dass sie nur bei ihm tiefe Vergebung erfahren würde. Sie hat den Ansprechpartner überhaupt gefunden. „Endlich ist die Schuld weg!“, sagt sie. „Gott brach diese Starre auf.“ Aus der befreienden Erfahrung wächst ein Neuanfang: „Ich war voller Liebe, Sonne, Licht.“ Endlich kann sie ihre Kinder so ganz und gar sehen. Auch ihren Mann, der sie in schweren Zeiten ausgehalten, ertragen, niemals aufgegeben hat. „Das ist Liebe“, sagt Riemann. 2007 hat das Paar geheiratet, 2010 wird den beiden ein weiterer Sohn geschenkt, 2017 eine Tochter.

Gottes Projekt

Das Bekenntnis „Ich habe abgetrieben“ gehört zu Riemanns Lebensgeschichte; es geht ihr unterschiedlich gut damit. „Die Wunden sind da, die Narben bleiben.“ Sie schmerzen auch, wenn sie Unverständnis erfährt, Ablehnung, Verurteilung – zumal „im christlichen Bereich“. Das fasse sie an, auch weil sie sich gerechtfertigt wisse durch Jesus Christus. „Dass ich wieder leben kann, habe ich Gott und seiner Liebe zu verdanken“, sagt die 45-Jährige. Und so ist ihr Schritt in die Öffentlichkeit ein sehr bewusster. Gemeinsam mit Marie Franke und den weiteren Unterstützern wolle sie mit ihrer Geschichte und auch mit „Marinus“ ein Tabu aufbrechen. „Wir wollen nicht verurteilen, sondern den betroffenen Frauen und auch ihren Männern zeigen, dass Gott da ist und barmherzig ist, dass er heilen kann. Im Grunde ist es sein Projekt.“ Ihr Bekenntnis verzichtet auf Anklage oder Forderungen, sondern will in hellen Farben unterstreichen, dass ungeborenes Leben Leben ist und dass Gott Vergebung bereithält.

Für Riemann ging die Geschichte mit ihrem 14-Wochen-Kind noch ein Stück weiter. 2015 besuchte sie via Skype einen Bewältigungskurs bei Erika Wick, die heute die Initiative „Endlich wieder leben!“ leitet. Der bringt sie noch einmal „tief in die Verarbeitung“ des Erlebten. Eine Erkenntnis: Das Kind, dem sie als Jungen den Namen Luca gegeben hatte, muss ein Mädchen gewesen sein. Der neue Name ist Hannah – „Gott ist gnädig“.

Von: Claudia Irle-Utsch

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 1/2021 des Christlichen Medienmagazins pro. Das Heft können Sie kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41 / 5 66 77 00.

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Eine Antwort

  1. Hallo alle miteinander
    Es geht um Vergebung

    Frau Riemann können Sie mit mir telefonisch Kontakt aufnehmen ***** (Tel.-Nummer von der Red. gelöscht) Danke dafür

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