Am Ende ist es in Österreich sehr schnell gegangen: Nachdem am 3. Januar die liberalen Neos (Das Neue Österreich) vom Verhandlungstisch aufgestanden sind, waren auch die Verhandlungen zwischen der christdemokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) tags darauf am Ende. Nach dem Rücktritt des ÖVP-Chefs und Bundeskanzlers Karl Nehammer, hat sich die ÖVP unter dessen Nachfolger, Christian Stocker, dazu entschlossen, was sie bis dahin kategorisch ausgeschlossen hatte: Regierungsverhandlungen mit der weit rechts stehenden und mit der deutschen AfD vergleichbaren Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) unter Parteichef Herbert Kickl aufzunehmen. Im Falle einer Einigung solle dieser zum nächsten österreichischen Bundeskanzler gemacht werden.
Das ist auch deshalb besonders pikant, da einerseits die Abgrenzung zur FPÖ unter Herbert Kickl eines der wichtigsten Wahlkampfthemen der ÖVP im vergangenen Herbst war. Andererseits hatte gerade Christian Stocker als früherer Generalsekretär der ÖVP – und somit Nehammers rechte Hand in der Parteizentrale – Herbert Kickl noch im Wahlkampf letztes Jahr scharf kritisiert: „Die Kickl-FPÖ ist nicht nur eine Gefahr für die Demokratie, sondern eine ebenso große Gefahr für die Sicherheit Österreichs“, meinte Stocker im August. Und im September erklärte er: „Herbert Kickl darf im Interesse der Sicherheit der österreichischen Bevölkerung keine Regierungsverantwortung übernehmen“, wie die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ berichtet.
Der Zeithistoriker und Politologe Heinz Wassermann, der an der Fachhochschule Johanneum in Graz lehrt, nennt Stocker im Interview mit PRO daher einen „Wendehals“ und sieht in ihm auch eher einen Übergangskandidaten für die ÖVP-Führung. Und einer der bekanntesten Politologen Österreichs, Peter Filzmaier, zitiert in diesem Kontext in seinem Podcast „Der Professor und der Wolf“ den Konrad Adenauer zugeschriebenen Ausspruch „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“. Außerdem warnt er vor einem weiteren Vertrauensverlust der österreichischen Bevölkerung in die Politik.
Stetiger Abstieg der einstigen Großparteien
Tatsächlich ist die sich nun abzeichnende Koalition zwischen FPÖ und ÖVP freilich auch der Tatsache geschuldet, dass die rechtspopulistische und in weiten Teilen rechtsextreme FPÖ bei den österreichischen Nationalratswahlen am 29. September als stärkste Parlamentspartei hervorgegangen ist. Nicht zuletzt aufgrund der radikalen Ansagen des jetzigen Parteiobmanns Herbert Kickl. Der schwadronierte beispielsweise über „Fahndungslisten“ gegenüber politischen Gegnern und sprach angesichts der Pandemiemaßnahmen gerne von einer „Coronadiktatur“. Der den Grünen nahestehende Bundespräsident Alexander van der Bellen und der konservative Ex-ÖVP-Chef Karl versuchten, eine Koalition gegen die FPÖ zu bilden. Diese hätte einer Einigung zwischen ÖVP und SPÖ und, aufgrund der knappen parlamentarischen Mehrheit von nur einem Mandat Überhang, nach Möglichkeit eines dritten Partners, wie den liberalen Neos oder den österreichischen Grünen bedurft. Genau dieses Unterfangen ist nun jedoch Anfang Januar gescheitert, nachdem die Liberalen die Verhandlungen mit ÖVP und SPÖ aufgekündigt hatten.
Heinz Wassermann sieht Letzteres jedoch eher als Auslöser und weniger als Ursache für die gescheiterten Verhandlungen. Er weist darauf hin, dass „die beiden staatsgründenden Parteien und vormaligen Großparteien“ ÖVP und SPÖ noch in den 1990ern gemeinsam fast 90 Prozent der Stimmen hatten, während sie bei der letzten Parlamentswahl erstmals auf unter 50 Prozent gekommen sind, um zu resümieren: „Je mehr sie schrumpfen, desto geringer ist offenbar ihre Kompromissfähigkeit.“
Dass nun also die FPÖ zum Zug kommt, ist also vor allem auch eine Folge der zunehmenden Schwäche der alten Volksparteien, wie sie nicht nur in Österreich zu sehen ist. Auch der vielen in der ÖVP einst als Zukunftshoffnung geltende und schließlich über Korruptionsvorwürfe gestolperte Sebastian Kurz konnte dieses Blatt nicht nachhaltig wenden: „Die Wahlerfolge unter Sebastian Kurz haben nur übertüncht, wie kaputt die ÖVP ist. Substanziell hat sich nichts geändert“, meint Wassermann. Er spricht damit ans, dass die Ära Kurz dem Abwärtstrend der ÖVP in den Wahlergebnissen nur temporär entgegengewirkt hat: Während die Ergebnisse der SPÖ stetig nach unten gegangen sind, hatte sich die ÖVP zwar unter Kurz 2017 und 2019 vorläufig erholt, jedoch unter Nehammer vergangenes Jahr wiederum verloren.
Wird die liberale Demokratie in Österreich standhalten?
Auch zwischenzeitliche Gerüchte, dass Kurz nach dem Rücktritt Nehammers in die Politik zurückkehren könnte, haben sich nicht erhärtet. Kurz ist aufgrund der Korruptionsvorwürfe in Österreich mittlerweile einerseits schwer angezählt. Andererseits wäre die Rolle als Vizekanzler unter Herbert Kickl wohl nicht attraktiv für ihn. Tatsächlich wird mit Kickl ausgerechnet ein besonders radikaler FPÖ-Chef der wohl erste Bundeskanzler der Freiheitlichen Partei: „Haider und Strache wollten das politische System zwar aufmischen, sich jedoch aber trotzdem an die Regeln des Systems halten“, analysiert Wassermann hinsichtlich Kickls Vorgänger an der FPÖ-Spitze, dem 2008 tödlich verunglückten Jörg Haider und dem 2019 durch den sogenannten Ibiza-Skandal politisch gescheiterten Heinz-Christian Strache. Kickl war für sie jeweils als Redenschreiber und Stratege im Hintergrund tätig. „Bei Kickl siehst du hingegen nur noch den Bihänder“, meint Wassermann mit Blick auf die Brachialrhetorik des sich als „Volkskanzler“ – einem Begriff, der seinerzeit auch von den Nationalsozialisten für Adolf Hitler verwendet wurde – bezeichnenden Kickl.
„Kickl ist kein Hitler, wirklich nicht. Aber es genügt, was er ist: ein vor innerem Ressentiment bebender autoritärer Typ, der Österreich in ein autoritäres System umbauen möchte (er verwendet dabei unentwegt Hitlers Vokabular: ‚Systemparteien‘, ‚internationale Cliquen‘, ‚Volksverräter‘)“, analysiert zudem der erfahrene Politikjournalist Hans Rauscher in der Zeitung „Der Standard“.
Für Wassermann stellt sich angesichts einer sich abzeichnenden Regierung unter Kickl die Frage: „Wie robust sind die demokratischen Korrektivinstitutionen? Das ist der Verfassungsgerichtshof (das österreichische Höchstgericht, Anm. d. Red.), das sind die Medien, das ist die Zivilgesellschaft.“ Das Höchstgericht sieht der Politologe dabei eher als robust an, dafür sieht er die Unabhängigkeit der Medien durchaus in Gefahr. Schließlich könnte eine Regierung unter Kickl dem öffentlich-rechtlichen ORF durch die Beschneidung seines Budgets de-facto den Stecker ziehen. Zudem könnte sie den privaten Medien, die in Österreich über die Medienförderung und öffentliche Inserate ebenfalls wesentlich vom Staat abhängig sind, durch die Beschneidung ihrer staatlichen Förderung ebenfalls erheblichen Schaden zufügen.
Lehren für Deutschland
Hinsichtlich der deutschen Politik sieht Wassermann jedenfalls nach der kommenden Bundestagswahl, „so lange unter Friedrich Merz noch ein gestandener Konservativismus besteht“, noch keine Gefahr einer ähnlichen Machtübernahme der AfD wie in Österreich unter der FPÖ. Deutsche Politikbeobachter, wie die Journalistin Kristina Dunz in der ZDF-Sendung Markus Lanz sehen jedoch durchaus die Gefahr eines mittelfristigen Dammbruchs in Richtung AfD: „Vielleicht passiert es nicht bis Februar“, meint Dunz: Aber wenn auch die nächste deutsche Regierung brechen würde, „sind wir sehr viel schneller an dem Punkt, als wir das jetzt überhaupt zu befürchten wagen, dass sich die Kraft der AfD wahrscheinlich noch einmal verstärken wird.“
Auch Politiker von Robert Habeck (Grüne) bis Markus Söder (CSU) haben zuletzt vor einem ähnlichen Aufstieg der AfD, wie jenem der FPÖ in Österreich, gewarnt. So meinte Habeck gegenüber dem Deutschlandfunk: „Der Blick nach Österreich zeigt, was passiert, wenn man nicht mehr bündnisfähig ist“. Und Söder: „[I]ch habe keine Lust, […] dass wir am Ende Steigbügelhalter werden für irgendwelche Populisten.“
Von: Raffael Reithofer