Helmuth Rilling sitzt in seinem kleinen Büro in der Musikhochschule Stuttgart. Mit Studenten aus vielen unterschiedlichen Ländern übt er zurzeit die Matthäus-Passion ein. „Nur etwa zehn Prozent kommen aus Deutschland“, sagt er über seine jungen Chorsänger. Der Mann, der ab und zu an seiner Tasse Kaffee nippt, hat wie kaum jemand anderes dafür gearbeitet, Bach in der ganzen Welt verständlich zu machen. Viel über sich erzählen will er eigentlich nicht. Warum auch? In unzählbaren „Erklärkonzerten“ hat Rilling viel mehr über das gesagt, was ihm wirklich wichtig ist, nämlich Bach. Denn Bach hören ist nicht dasselbe wie Bach verstehen. Wenn im Chor das Gespött des Volks vor dem gekreuzigten Jesus, das höhnende Lachen der römischen Soldaten oder plätscherndes Wasser zu hören ist – dann braucht es manchmal jemanden, der einen auf diese von Bach versteckten Hinweise aufmerksam macht.
Sogar in Bachs Partituren sind christliche Bilder zu finden. So formen etwa im Eröffnungschoral der Johannes-Passion im Schlusstakt die Noten ein Kreuzzeichen im Bass. „Das weist auf die drei Kreuze von Golgatha hin“, erläutert Rilling. „So etwas war für Bach selbstverständlich.“
Der Kirchenmusiker, der am 29. Mai 1933 geboren wurde, begann seine Karriere 1957 als Kantor, lehrte später in Berlin an der Kirchenmusikhochschule und wurde dann Kirchenmusikdirektor in Stuttgart. Es folgte eine Professur für Chorleitung in Frankfurt am Main. Schon in den 70er Jahren fokussierte er sich dann auf das Schaffen Bachs, des „fünften Evangelisten“. „Schon als Junge war ich fasziniert von Bach, und das bin ich bis heute geblieben“, sagt Rilling. Zum 300. Geburtstag eines der letzten und zugleich größten Barock-Komponisten nahm Rilling 1985 als erster Dirigent alle geistlichen Kantaten Bachs auf.
Zu verdanken ist dieses epochale Werk dem Stuttgarter Verleger Friedrich Hänssler, der selbst studierter Musikwissenschaftler und Theologe ist und Mitbegründer des Christlichen Medienverbundes KEP. „Mit Friedrich Hänssler verbindet mich eine lebenslange Freundschaft“, sagt Rilling. Schon bei der Gründung der Gächinger Kantorei 1954 half Hänssler Rilling mit Noten aus. Der Chor, der aus einer kleinen baden-württembergischen Gemeinde hervorging, ist mittlerweile weltbekannt und ein Synonym für hervorragende Bach-Interpretation. Im Jahr 2000 wagten Hänssler und Rilling etwas, was es zuvor noch nicht gab: Sie nahmen das Gesamtwerk Bachs auf. „172 CDs mit allen Bachschen Werken. Das ist ja schon eine große Sache“, sagt Rilling, und es huscht ein leises Lächeln über sein Gesicht. Aber um jeden Anschein von Stolz gleich wegzuwischen, fügt er sofort hinzu: „Auch das war Friedrich Hänsslers Initiative.“
Bach-Fan und Luther-Verehrer
Rillings Expertise des Meisters der Fugen, des Kontrapunkts und der geistlichen Musik wächst, sein Ansehen nimmt auch im Ausland zu. 1965 gründet er das Bach-Collegium Stuttgart als instrumentalen Partner für die Gächinger Kantorei. 16 Jahre später folgt die Gründung der Internationalen Bachakademie Stuttgart, deren künstlerischer Leiter Rilling bis zu seinem Rücktritt im Februar 2012 war. Rilling bewegt sich auch heute noch zwischen den Erdteilen, zwischen den USA, Asien und Europa, er ist ein gefragter Mann.
Bei der Probe hängen die Studenten an den Lippen des weißhaarigen Musiklehrers. Rilling spricht nicht sehr laut, und doch registrieren alle jede kleinste Nuance seiner Gesten, schreiben in ihre Noten, wenn der deutsche Bach-Experte etwa über dem Wort „schlafen“ weniger Legato hören möchte. „Er ist sehr genau, aber immer sehr, sehr freundlich“, sagt ein Bass in der Pause. Für Witze ist in den drei Stunden kaum Zeit. Rilling, der wegen des hohen Ausländeranteils Englisch spricht und neben sich eine amerikanische Assistenz-Dirigentin hat, geht konzentriert und zielstrebig von Takt zu Takt.
Eine besondere Freundschaft bindet ihn seit über dreißig Jahren an das Israel Philharmonic Orchestra. Erstmals besuchte er das Heilige Land 1976 mit „seinen Gächingern“, wie Rilling sagt. Die Erinnerung an den Holocaust war in jenen Tagen noch viel frischer als heute, erzählt der Dirigent. „Das israelische Orchester zeigte dementsprechend eine Zurückhaltung gegenüber den deutschen Gästen.“ Auf „sehr schöne Weise“ habe sich dies jedoch schlagartig geändert, erinnert er sich. Ins Konzert in Jerusalem kam auch Golda Meir, die israelische Premierministerin. Rilling hatte eine Idee: Alle Gächinger Sänger sollten den Text der israelischen Hymne „Hatikva“ lernen und mitsingen. „Als dann die Gächinger abends beim Konzert aufstanden und die israelische Nationalhymne sangen, war das für die israelischen Musiker sehr bewegend“, erinnert sich Rilling. „Seit dieser Zeit ist die Beziehung zwischen den Israelis und den Gächingern sehr herzlich. Über einhundert Konzerte haben wir seitdem in Israel aufgeführt“, sagt Rilling. „Das ist viel, oder?“
Rilling wurde in seinem Leben schon mit vielen Auszeichnungen geehrt, darunter sind drei Verdienstkreuze der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrendoktorwürde der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, der IMC-Musikpreis der UNESCO und ein Grammy. Im Jahr 2012 schließlich bekam er zudem die Martin-Luther-Medaille der Evangelischen Kirche in Deutschland überreicht. „Darüber habe ich mich sehr gefreut, weil ich ein großer Luther-Verehrer bin“, sagt Rilling. „Der geistliche Hintergrund der Bachschen Musik war mir immer sehr wichtig“, betont er. Genauso wie der christliche Glaube selbst: „Für mich ist der Glaube ein wichtiger und zentraler Aspekt meines Lebens.“ Weiter ausführen möchte er das nicht. Fragen über ihn persönlich beantwortet er nur knapp. Geht es aber um Bach, scheinen seine Augen ein kleines bisschen heller zu leuchten.
Bachs Kantatenwerk und seine Oratorien seien „überragende Monumente menschlichen, aber vor allem christlichen Denkens“, erklärt Rilling. Es sei ihm ein besonderes Anliegen, das Werk Bachs mit jungen Menschen zu erarbeiten. „Es ist für mich etwas Wertvolles, das, was ich in meinem Leben an Erfahrungen sammeln konnte, an junge Menschen weiterzugeben.“ Bach selbst sei ein hervorragender Lehrer gewesen. Vor allem seine eigenen Söhne seien gelehrige Schüler gewesen, die schließlich auch zu wunderbaren Komponisten geworden seien. „Im Grunde haben alle Komponistengenerationen nach Bach von ihm gelernt. Mozart, Beethoven, Mendelssohn, die Romantik, bis heute. Bach war immer ein Gradmesser der Qualität.“ Wenn er seinen Studenten oder den Besuchern seiner „Erklärkonzerte“ Bach präsentiert, ist ihm wichtig, dass die Zuhörer verstehen, was Bach zu sagen hat, es aufzunehmen und sich zu eigen zu machen. „Da geht es immer um die Sinndeutung.“
Bach kaum trennbar von der christlichen Botschaft
Muss man denn Christ sein, um Bach vollständig verstehen zu können? So weit will Rilling nicht gehen. „Neben allem Weltlichen, das Bach auch komponiert hat, etwa die Kammermusikwerke wie die Brandenburgischen Konzerte, hat er hauptsächlich Kirchenmusik komponiert. Bach ist diesem Raum der Kirche dermaßen verbunden, von Kindheit an, bis zu seinem Tod im Jahr 1750, und kennt die Kirchenmusik und alle geistlichen und theologischen Bezüge genau. Und immer wieder fließt das in sein Werk ein. Dennoch kann man heute nicht sagen: Sie müssen das glauben, sonst können sie das nicht verstehen.“ In Japan und China etwa gebe es viele Menschen mit ganz offenen Ohren für Bach, die jedoch dessen Glauben nicht teilten.
Dennoch sei Bach kaum trennbar von der christlichen Botschaft. Rilling resümiert: „Bach hat die große Fähigkeit, so zu komponieren, dass er auf etwas zeigt, ohne dies, worauf er zeigt, jemandem aufzuzwingen.“ In der Matthäuspassion etwa spreche Bach ur-menschliche Probleme an: „Liebe, Verrat, Selbstmord … Er zeigt auf, dass es dem Menschen nicht möglich ist, seine Probleme beiseite zu schieben oder alleine zu lösen. Dass er dafür eine höhere Autorität braucht. Es ist genau dieses Phänomen, was diejenigen, die aus anderen Religionen kommen oder mit der christlichen Religion wenig Verbindung haben, anrührt.“
Der Mann, der 2013 die Leitung der Bachakademie Stuttgart abgab, macht keine großen Worte um sich selbst. Vielleicht ist es ja wirklich sinnvoller, Bach zum Erklingen zu bringen und die christlichen Aussagen in den Noten zu verdeutlichen. Die Botschaft Bachs unter die Leute zu bringen, ist und war immer Rillings Hauptanliegen.
Von: Jörn Schumacher