„Die Korntaler sind ein Fall von zahllosen Heimen zur damaligen Zeit. Sie waren in nichts besser und in nichts schlechter“, sagte die pensionierte Richterin Brigitte Baums-Stammberger, die die Missbrauchsfälle in Korntaler Kinderheimen zusammen mit dem Marburger Pädagogen Benno Hafeneger und dem Soziologen Andre Morgenstern-Einenkel untersucht hatte. Dazu führte die Juristin nach eigenen Angaben 105 Gespräche mit betroffenen ehemaligen Heimkindern. Sie sprachen über Erfahrungen physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen. Herausgekommen ist ein mehr als 400 Seiten umfassender Bericht mit dem Titel „Uns wurde die Würde genommen“, der am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in Stuttgart veröffentlicht wurde.
Im Zuge der Recherchen seien 81 Täter identifiziert worden, darunter acht Intensivtäter. Ein ehemaliger Heimleiter etwa sei bekannt dafür gewesen, nach Gründen für Schläge regelrecht zu suchen, gab Baums-Stammberger an. Ein Werklehrer habe Kinder, wenn sie nachts unruhig waren, auf den Flur gestellt, während sie ihre Arme für lange Zeit minutenlang ausstrecken mussten. Der Lehrer habe ihnen dabei zugesehen.
Prügel für „Klauen von Obst“
Eine Erzieherin mit einer mutmaßlich sadistischen Ader sei ebenfalls von vielen Opfern genannt worden. Ein besonders intensiver Täter sei der langjährige Hausmeister der Einrichtung gewesen.
18 Fälle von Züchtigung seien bereits in den Akten der Heimleitung dokumentiert gewesen. Teilweise seien Kinder für Nichtigkeiten bestraft worden, etwa für „Klauen von Obst“ oder „freche Redensarten“. 18 Fälle von Züchtigung, teils mit Gummiriemen oder mit einem Stock, seien in den Akten des Heimes dokumentiert worden.
Auch 15 Fälle von sexualisierter Gewalt seien der Heimleitung bekannt gewesen, erklärte Hafeneger. Sie habe auf entsprechende Vorwürfe von Kindern entweder eine interne Klärung und eine Versetzung des Täters angestrengt oder ihn sofort gekündigt und die Fälle den Strafverfolgungsbehörden übergeben.
Dennoch hätten „Sexualstraftäter ihre Strategien gefunden“, ihre Triebe auszuleben. Etwa mit Süßigkeiten oder einer besonderen emotionalen Nähe hätten die Täter es geschafft, eine besondere Bindung zu den Kindern aufzubauen.
Formen der Gewalt durch das Personal. Die Prozentangaben beziehen sich nicht auf alle Heimkinder insgesamt, sondern nur auf diejenigen, mit denen Interviews geführt wurden.
Hafeneger wies darauf hin, dass Heime bis in die 80er Jahre hinein extrem unprofessionell geführt wurden. Durch den Erziehermangel habe fast jeder ohne Vorkenntnisse Erzieher werden können. Als Beispiel nannte Hafeneger ehemalige Offiziere. Selbst der langjährige Heimleiter sei kein Pädagoge, sondern „Landwirtschaftsmeister“ gewesen.
Auch der Zwang zur Religionsausübung sei Thema in den Gesprächen gewesen. Die Kinder seien verpflichtet worden, morgens und mittags zu beten und den Gottesdienst sowie abendliche Bibelstunden zu besuchen. Zeit für Intimsphäre und Rückzugsmöglichkeiten habe es nicht gegeben. Teilweise hätten die Mitarbeiter Kinder in die Bestrafung ihrer Altersgenossen miteinbezogen. In den meisten Fällen seien Bettnässer bestraft worden und „ganze Gruppen“ zur Durchführung der Strafen gezwungen worden.
Die ehemalige Richterin Baums-Stammberger erklärte, sie habe die verschiedenen Interviews einer „Plausibilitätsprüfung“ unterzogen. Dabei gehe man im Gegensatz zu Strafrechtsprozessen zunächst davon aus, dass der Befragte die Wahrheit sage. Die Ermittlerin habe die Angaben aus dem Interview dann mit weiteren Gesprächen und Akten abgeglichen, um schließlich zu bewerten, ob die Aussagen nachvollziehbar sind.
„Im Mittelpunkt steht der strafende Gott“
Eine Vergabekommission sprach den Opfern je nach Ausmaß der Taten 5.000 Euro Anerkennungsgeld zu, in einigen wenigen Extremfällen bis zu 20.000 Euro. Diese Beträge seien bereits ausgezahlt worden. Einige Interviewpartner hätten 1.000 bis 2.000 Euro erhalten, wenn keine Gewaltfälle festgestellt wurden. Trotzdem hätten diese ehemaligen Heimkinder einen „symbolischen Betrag“ erhalten, da die Atmosphäre in den Heimen „schrecklich“ gewesen sein müsse, sagte Baums-Stammberger. Wie die Juristin weiter angab, hätten die Betroffenen überwiegend positiv auf die Entscheidungen der Vergabekommission reagiert. Unzufrieden hätten sich lediglich vier Betroffene gezeigt. Auf der Pressekonferenz meldeten sich mehrere unzufriedene Betroffene teils empört zu Wort. Während des Prozesses hätten die Ermittler zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, nicht frei arbeiten zu können, im Gegenteil, sagte Baums-Stammberger.
Aus den Interviews abgeleitete Formen sexualisierter Gewalt. Anteil der Betroffenen an den Befragten.
Der Pädagoge Benno Hafeneger wies auf das allgemeine damals herrschende pädagogische Klima hin. „Bis in die 80er Jahre gab es kein positives Kinderbild.“ Kinder seien fast ausschließlich mit Wörtern wie „aufsässig“, „sündhaft“ und anderen beschrieben worden. Diese negativen Seiten sollte den Kindern „mit Härte ausgetrieben werden“, sagte Hafeneger. Dieses negative Kinderbild sei in Korntal mit einem bestimmten Gottesbild kombiniert worden. „Im Mittelpunkt steht der strafende Gott. Der Gott der Härte, der züchtigt.“ Die Mitarbeiterinnen im Heim hätten sich als Stellvertreter Gottes gesehen, die die Kinder hätten strafen müssen.
Kinder seien erzogen worden als „nicht angenommen“. Sie seien lediglich „Objekte der Erziehung“ gewesen. Hafeneger ging auch auf die verpflichtenden religiösen Elemente in Korntal ein: „Religionspädagogisch ist das aus heutiger Sicht unbegründbar“, wenn man zu religiösem Denken einladen wolle.
„Wir bitten herzlich um Vergebung“
Im Zuge des Aufklärungsprozesses war es mehrfach zu internen Streitigkeiten und Neustarts gekommen. Ein erster Aufklärungsversuch scheiterte 2016. Ein Mediationsteam moderierte den weiteren Prozess. Zur Pressekonferenz eingeladen hatte die Auftraggebergruppe, die aus Vertretern der Opfer und der evangelischen Brüdergemeinde Korntal zusammengesetzt war. Die Opfergruppe zerstritt und spaltete sich schließlich in zwei Lager. Detlev Zander, der 2014 die Aufdeckung den Missbrauchsskandals ins Rollen gebracht hatte, sprach auf der Pressekonferenz von einem „rabenschwarzen Tag für Korntal“. Die Verantwortlichen damals hätten gewusst, „dass wir kleine Kinder sexualisierte Gewalt erleben mussten. Keiner hat uns geschützt“. Innerhalb des Aufklärungsprozesses hätten einige Opfer eine Retraumatisierung erlebt. Dies müsse ebenfalls aufgearbeitet werden.
Der weltliche Leiter der Brüdergemeinde Korntal, Klaus Andersen, zeigte sich erschüttert vom Ausmaß der Gewalt, die in dem Bericht geschildert wurde: „Wir bitten herzlich um Vergebung.“ Das Verhalten damals sei falsch gewesen und entspreche „nicht unserem christlichen Verständnis“. Die Anerkennungszahlungen könnten den Schaden nicht wiedergutmachen, der entstanden sei. Es sei aber ein „ernsthaftes Zeichen, dass wir gehört und verstanden haben, was geschehen ist“. Die Evangelische Brüdergemeinde werde alles dafür tun, dass niemals wieder Missbrauch in deren Einrichtungen geschehe. Misstrauen und Kritik seien „wie ein Stachel ständiger Begleiter dieses Prozesses“ gewesen. „Das tat weh“, kommentierte Andersen.
Die Kosten des gesamten Aufklärungsprozess werden laut Andersen inklusive der Anerkennungszahlungen an die Opfer „die Schwelle eines siebenstelligen Betrages“ überschreiten.
Von: Nicolai Franz