Beim „Almöhi“ wohnt Heidi, ein fünfjähriges Mädchen, auf der Alm im Schweizer Kanton Graubünden. Das Waisenmädchen soll bei diesem einsiedlerischen Großvater leben, nachdem ihre Eltern gestorben waren. Sie lernt dort den Geißenpeter kennen und die Natur lieben. „Heidi, Heidi, denn hier oben bist du zu Haus’.“ So weit, so bekannt.
Die beiden Romane, auf denen die Serie fußt, gehören zu den bekanntesten Kinderbüchern der Welt. Sie erzählen aber eigentlich eine Geschichte, die in der Zeichentrickserie und in den meisten Adaptionen schlichtweg totgeschwiegen wird: Nämlich, dass Heidi zum Glauben kommt und danach wie eine Fackel andere mit dieser neu gefundenen Freude im Herzen ansteckt. Auch ihren verbitterten Großvater.
Der Ohrwurm, der zu Beginn jeder 25-minütigen Folge erklingt, hat wesentlich zum Erfolg der Serie vor allem in Deutschland beigetragen. „Dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein, brauchst du zum Glücklichsein“, trällerte das Schlager-Duo Gitti und Erika bis weit in die Neunzigerjahre regelmäßig in die deutschen Wohnzimmer. „Holadio, Holadio!“
Vor 50 Jahren, vom 6. Januar bis zum 29. Dezember 1974, lief die Serie erstmals im Fernsehen, und zwar auf „Fuji TV“, dem damals erfolgreichsten japanischen Sender. In Deutschland wurde die Serie vom 18. September 1977 bis zum 24. September 1978 vom ZDF erstmals ausgestrahlt. Die ikonenhafte Titelmelodie komponierte der Deutsche Christian Bruhn, der mit unzähligen weiteren Fernseh-Titelmelodien und Hits Kultstatus erreichte („Captain Future“, „Wickie“, „Timm Thaler“, „Manni, der Libero“, „Zwei kleine Italiener“, „Liebeskummer lohnt sich nicht“, „Marmor, Stein und Eisen bricht“ …).
Buddhismus verhinderte Heidis Christsein
Die Anime-Serie wurde produziert vom japanischen Studio „Zuiyo Enterprise“, das heute „Nippon Animation“ heißt. Nach „Heidi“ produzierte das Unternehmen zusammen mit dem ZDF auch „Wickie und die starken Männer“, „Die Biene Maja“, „Sindbad“ und „Pinocchio“. Regisseur Isao Takahata war Mitbegründer des weltbekannten japanischen Zeichentrickfilmstudios „Studio Ghibli“, das unter anderem mit Filmen wie „Prinzessin Mononoke“ und „Chihiros Reise ins Zauberland“ Erfolge feierte.
„Heidi“ wurde Vorreiter einer eigenen Kultur, die heute einen riesigen Markt ausmacht. Hauptmerkmal ist die fast übertriebene Verniedlichung der Figuren mit großen runden Kulleraugen. Die Kultur des „Kawaii“ findet sich bis heute wieder im weltweiten Anime- und Mangakult.
Die Serie läuft seit ihrer Erstausstrahlung noch heute regelmäßig im japanischen und im deutschen Fernsehen und das mit beachtlichen Einschaltquoten. Sie lief zudem in Italien, Portugal, Spanien, Frankreich, China und verschiedenen arabischen Ländern, in Südafrika, Mexiko, Indien, in den Niederlanden und auf den Philippinen.
Noch heute reisen Massen von Heidi-Fans nach Graubünden, um in Maienfeld und Umgebung auf Spurensuche zu gehen. Eine deutsche Neuveröffentlichung auf DVD erhielt auch 2009 noch immer positive Kritiken. Im Jahr 2005 war die Fernsehserie sogar Teil einer Ausstellung im „Museum of Modern Art“ in New York.
Doch so gut wie nie ist die Rede davon, dass „Heidi“ ursprünglich eine zutiefst christliche Geschichte ist. Dem buddhistisch und shintoistisch geprägten Publikum in Japan wäre das zu unverständlich gewesen, heißt es.
Die Botschaft des Glaubens verändert die Menschen
Zwei Romane sind es, auf denen der Heidi-Kult basiert. Die Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri schrieb 1879 „Heidis Lehr- und Wanderjahre“, das schnell zu einem großen Erfolg wurde, es folgte 1881 „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“. Die Bücher wurden in über 50 Sprachen übersetzt und mehrmals verfilmt, es gibt zudem mehrere Musicals. Eine computeranimierte Neuauflage der Geschichte mit 65 Folgen strahlt das ZDF seit 2015 aus, unter anderem auf Kika.
Die ursprüngliche Geschichte enthält einen wesentlichen Wendepunkt. Heidi, die todunglücklich und einsam ist, lernt Klara kennen, ein zwölfjähriges Mädchen aus reichem Elternhaus aus Frankfurt am Main. Klaras Großmutter sieht, wie unglücklich Heidi ist, und sagt zu ihr: „Wenn man einen Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er kann allem Leid abhelfen, das uns drückt.“
Die Frage, ob Heidi manchmal bete, verneint das Mädchen. „Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was uns wieder froh macht.“ Im Roman heißt es weiter: „Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: ‚Darf man ihm alles, alles sagen?‘ ‚Alles, Heidi, alles.‘“
Die Großmutter („Frau Sesemann“) bringt Heidi das Lesen bei und liest mit ihr kindgerechte, bebilderte Bibelgeschichten. Besonders hat es Heidi die Geschichte vom verlorenen Sohn angetan. Sie schwärmt ihrem verbitterten Großvater von der Geschichte vor und zeigt sie ihm anhand des Bilderbuchs.
Der wird ganz still, ihm kommen die Tränen. Als Heidi eingeschlafen ist, schweigt er lange, dann faltet er die Hände und betet: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!“ Der Almöhi beginnt, wieder Interesse an den Gottesdiensten in der Dorfgemeinde zu haben, er bittet die Menschen um Vergebung, denen er Leid angetan hat, und ist wie ausgewechselt.
Auch der Großmutter des Geißenpeters bringt Heidi mit ihrer neuen Zuversicht auf Gott Licht ins Leben. Die Alte ist blind und darüber traurig, dass sie nicht mehr die Lieder aus ihrem Gesangbuch singen kann. Sie hatte eigentlich gehofft, dass Peter lesen lernen würde, aber der kann oder will es nicht lernen. Heidi jedoch greift bei ihr zum Gesangbuch und liest ihr vor: „Die güldne Sonne / Voll Freud und Wonne“. Acht Strophen des Liedes sind in Johanna Spyris Buch abgedruckt, vielleicht zum Nachsingen. Es geht in dem Lied darum, Gott zu sehen, und zwar mit dem Herzen, nicht mit den Augen.
Für die blinde Großmutter ein bewegender Moment. „O Heidi, das macht hell! Das macht so hell im Herzen!“ Sie möchte vor allem eine Strophe immer wieder hören: „Kreuz und Elende – Das nimmt ein Ende, nach Meeresbrausen und Windessausen leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht“. Auch Klara, die im Rollstuhl sitzt, verändert Heidi mit dem Evangelium nachhaltig. Sie befreit sie zuerst aus ihrer Einsamkeit, später kann sie sogar von ihrem Rollstuhl aufstehen und gehen.
Verlorene Söhne und einsame Kinder
„Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn ist nicht die Geschichte Heidis. Es ist die Geschichte des Großvaters“, sagt Ralph Kunz, Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Er hat seine Antrittsvorlesung zu dem Thema gehalten und macht darauf aufmerksam: „Es heißt vom Almöhi im Roman, dass er sein Vermögen verprasst hat. Er hat eventuell gespielt und gesoffen. Er hat sich versündigt und Gottes Gericht erfahren, seine Kinder sind offenbar umgekommen bei einem Unglück. Es ist eine klassische Hiobsgeschichte.“
Der Schweizer Theologe erklärt, was die popkulturellen Adaptionen des 20. Jahrhunderts verschweigen: „Deshalb ist der Almöhi auf der Alm! Er ist der verlorene Sohn.“ Kunz ergänzt: „Es braucht das Wunder dieses Kindes Heidi, das ihm das Herz aufschließt. In ihm zerbricht etwas. Er kann auf einmal weinen. Und er kann Buße tun.“ Heidi sei nicht nur eine Heilungsgeschichte, sondern auch eine Heiligungsgeschichte.
Auch Peter sei verstockt, er sei „die Miniatur-Version des Großvaters“, so Kunz. „Doch Heidi hat das, was Jesus fasziniert hat. ‚Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen‘, sagte Jesus in der Bergpredigt. Gott hat es den Unmündigen offenbart.“ Heidi weiche den Geißenpeter quasi auf. „Auch Fräulein Rottenmeier ist eine harte Nuss“, fügt Kunz hinzu und fasst zusammen: „Dieser Roman hat viele Interpretationsfiguren für alle Verstockten.“
Für Heidi selbst ist das Christwerden eine Erlösung aus der Einsamkeit und aus dem Gefühl des Verlassen-worden-Seins. „Da ist jemand, der mich sucht“, erkennt sie. Das Waisenkind findet Trost in der Geschichte vom verlorenen Sohn, weil sie selbst heimatlos ist, und das löst Sehnsucht in ihr aus. „Die Autorin Johanna Spyri war pietistische Christin“, sagt Kunz. „Ein Anliegen war es ihr auch zu zeigen, wie aus der Heidin Heidi (sie heißt eigentlich Adelheid, wird aber Heidi genannt) eine Christin wurde.“ Das Buch „Heidi“ sollte jedenfalls nie vordergründig die heile Welt in der Schweiz zeigen, sagt Kunz.
Das Buch von Johanna Spyri ist um ein Vielfaches tiefschichtiger, als es die knallbunte Anime-Serie aus Japan zeigt. Vor allem aber reichten – anders als es Gitti und Erika sangen – die grünen Wiesen im Sonnenschein offenbar nicht aus für Heidis Glück.
Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 5/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.