Hartz IV-Debatte: Wenn Betroffene trotzdem helfen

Bea Seitz ist Mutter von sieben Kindern, lebt von Hartz IV – und hilft in einem Verein anderen Familien. In Talkshows ist sie unermüdliche Anwältin für Gerechtigkeit und straft die Vorurteile vieler Lügen. Pro-Autorin Ellen Nieswiodek-Martin eröffnet in ihrem Portrait eine etwas andere Sicht auf die Hartz-IV-Debatte.
Von PRO

"Wenn man selber arm ist, dann fällt einem die Armut bei anderen viel stärker auf", das erlebt zumindest die siebenfache Mutter Bea Seitz. Die 49-Jährige lebt mit ihren sieben Kindern in einem kleinen Ortsteil von Reutlingen. Die Familie muss mit Hartz IV und dem Kindergeld auskommen. Aber Selbstmitleid kommt im Wortschatz der energischen blonden Frau nicht vor. Statt zu klagen oder zu jammern, kümmert sich die Diplom-Sozialpädagogin um andere Menschen, die in Armut leben oder einfach eine Zeit lang Unterstützung brauchen. Im Herbst 2009 hat sie den Verein "Hope Reutlingen" gegründet. Ziel des Vereins ist es, sozial Schwache, Benachteiligte, kinderreiche Familien und Alleinerziehende zu unterstützen.

"Hilf mir, dass ich es alleine kann"

"Wir wollen Menschen in ihrer Notsituation wahrnehmen, sie ermutigen und ihnen durch praktische Unterstützung zeigen, dass sie nicht alleine sind", sagt Bea Seitz. Der Satz von Maria Montessori "Hilf mir, dass ich es alleine kann" erkläre die Motivation von "Hope Reutlingen" am besten. "Wir arbeiten einzelfallorientiert. Wir analysieren das Problem und schauen dann, wo es Zuschüsse und Hilfe gibt und was man dafür tun muss." Acht aktive Mitglieder hat der junge Verein bisher, aber bereits 150 Unterstützer aus ganz Baden-Württemberg. Letzteres liegt nicht zuletzt daran, dass Bea Seitz zu Gast in verschiedenen Talkshows war. Als der SWR jemanden suchte, der bereit war, etwas über das Leben mit Hartz IV zu erzählen, sagte sie spontan: "Ja, das mache ich". Und so fand sie sich als Hartz IV-Betroffene in den Sendungen von Wieland Backes ("Nachtcafé") und Sandra Maischberger ("Menschen bei Maischberger") wieder. Nach den Fernsehbeiträgen klingelte ständig das Telefon. Bea Seitz erhielt zahlreiche Kleiderspenden aber auch die unterschiedlichsten Angebote. "Da riefen Vermögensberatungen an und boten mir einen Job an, dabei bin ich für Vermögensanlage wirklich die Falsche!" Sie will gerne wieder berufstätig sein, dabei aber das tun, was sie am besten kann: sich für Kinder und Familien engagieren.

Einen Erfolg konnte sie gerade feiern: Endlich hat sie für die Familie mit neun Kindern, die seit fünf Jahren eine bezahlbare Wohnung sucht, eine größere und vor allem bezahlbare Bleibe gefunden – „Hope Reutlingen“ unterstützt sie dabei. Denn auf eines legt Bea Seitz besonderen Wert: Ihre Arbeit muss praktische Folgen haben.

Sie weiß etwa aus eigener Erfahrung, warum Großfamilien bei Gemeindefesten oft zuhause bleiben. "Die Gemeinden verkaufen zwar Essen und Getränke für wenig Geld, aber bei Familien mit vielen Kindern läppern sich auch kleine Beträge zusammen und sind zu viel für den schmalen Geldbeutel." Als sie dies dem Pfarrer sagte, reagierte der überrascht, "das hatte er noch nie wahrgenommen". Das überrascht Bea Seitz nicht, denn "viele schämen sich doch, etwas zu sagen und bleiben lieber zuhause". Als Mitglied der evangelischen Kirche vor Ort beobachtet sie immer wieder, dass Kirchengemeinden gerne Gutes tun wollen, aber die Situation der Menschen nicht im Blick haben. "Gemeinden und Freikirchen verbringen zu viele Stunden damit, organisatorische und verwaltungstechnische Dinge zu besprechen. Dabei sehnen sich Menschen nach Beziehungen, für die Kirche oft keine Zeit hat." Schwierig findet sie auch, wenn die Teilnahme von Kindern an kirchlichen  Veranstaltungen aus Kostengründen scheitert. Für manche Familien sind eben 90 Euro im Jahr für die Mitgliedschaft bei den christlichen Pfadfindern zu viel, das weiß sie. Und sie traut sich auch, es an den verantwortlichen Stellen auszusprechen. 

Bea Seitz trennt nicht zwischen Vereinsengagement und Privatleben. In ihrem kleinen Arbeitszimmer schreibt sie Rundmails und Pressemitteilungen, um zu informieren und Geld zu sammeln, nebenher sprudeln die Ideen für neue Projekte. Zwischendurch sind regelmäßig Kinder und Erwachsene zu Besuch, irgendein großer oder kleiner Mensch sitzt fast immer mit am Familientisch. Diesmal ist es die Vierjährige mit dem Downsyndrom. Sie übernachtet alle paar Wochen bei Familie Seitz, damit ihre Mutter einmal Zeit hat für sich oder die älteren Kinder.

Solidarität mit anderen Familien bekunden

Bea Seitz ärgert sich über die Sozialpolitik. "Wir Hartz IV-Empfänger haben nichts von der Erhöhung des Kindergeldes, denn dafür wurden mir die monatlichen Bezüge gekürzt." Jetzt startet "Hope Reutlingen" eine Aktion, die Familien dazu aufruft, die 20 Euro Kindergelderhöhung oder einen Teil davon zu spenden zugunsten armer Familien, an denen die Kindergelderhöhung vorbeigeht. "Damit unterstützen die Spender Kinder in Armut und bekunden Solidarität mit anderen Familien." Für die Zukunft will die unermüdliche Ideenfinderin den Verein zu einem Netzwerk ausbauen, von dem möglichst viele Menschen profitieren.

Außerdem verrät die siebenfache Mutter ihren Traum: Ein altes, leerstehendes Hotel hat es ihr angetan. Dieses Haus ist groß genug, um darin mehr als zwanzig Menschen zu beherbergen. Sie würde es gerne zu einer Oase umbauen, in der Kinder und Teenager, die heimatlos sind, ein Zuhause finden. Ihre Vision ist es, genug Platz zu haben, um einen Ort der Begegnung zu schaffen für alle, die in der Gesellschaft eher am Rand stehen. (pro)

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1/2010 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen.

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